unberührbar

Oh, wie ich es hasse zu schreiben. Wörter zäh wie… Metaphern, die mir nicht einfallen oder zu abgelutscht sind oder nicht passen. Buchstaben, die sich mit aller Kraft dagegen wehren, heruntergepresst zu werden, hineingepresst in mein digitales Lehmtäfelchen. Bevor ich irgendwas schreiben kann, muss ich erst das ganze Internet leer gelesen haben, bis all diese Stimmen meine eigene überschreien. Dann kann ich einen ersten Satz schreiben und mich fühlen wie Virginia Woolf („ich habe einen ersten Satz!“). Zwischen den Sätzen muss ich aufstehen und Zahnseide benutzen, das ist ja auch ganz wichtig. Und bei allem immer schön ironisch bleiben. Ironisch sein ist einfach. Man kann sich über alles äußern, ohne dass es einen selbst betrifft, unberührt, unverletzlich, unveränderlich, und dazu singt MC Hammer „can’t touch this“.

Aufschreiben heißt, etwas festzuhalten. Mich selbst festhalten, mich erkennen, in Fragmenten. Ich will das, und ich will das doch nicht, sonst wäre es nicht so schwer, sonst würde ich mich mir selbst nicht entwinden wollen. Wenn ich es nicht aufschreibe, bin ich nicht zufrieden, weil ich so bequem bin, die einfache Lösung wähle; wenn ich es aufschreibe, bin ich nicht zufrieden, weil es mir nicht genau genug ist. Ich kann nicht gewinnen.

Ich habe eine Zeitlang nicht geschrieben. War auch nicht besser. Also schreibe ich wieder, und ich hasse es.

Talisman

Ich benutze dich gelegentlich als Talisman – genauer: meine Erinnerung an dich. Weniger, wie wir uns in der Dunkelheit von Hauseingängen geküsst haben, nein; mehr das gleißend weiße Zimmer, die weiße Bettwäsche, die weißen Vorhänge, kolonial und tropisch heiß, dreckiger Sex, der mich rein gemacht hat wie weißes Papier, mich ausgewischt hat, mich formatiert hat wie einen korrupten Chip. Ein Reset, der mich befreit hat von all dem Ballast. Von allen Schwänzen war deiner der Schönste.

Eine Erinnerung wie ein Talisman, der Glaube daran gibt dieses extra bisschen Kraft, das weit trägt, das die Schritte federn lässt, das sich wie ein Schutzfilm mich legt und mich an manchen Tagen all diese Menschen, ihre Dummheit und die Tristesse von U-Bahnhöfen vergessen lässt.

überdreht

Die Linie seiner Schultern ist wie eine Bogensehne bis zum Anschlag gespannt. Der Körper unter Strom, sein linkes Bein vibriert staccato. Das Café um ums herum ist bis zum letzten Platz belegt, die Kellner hetzen zwischen Tischen und Menschen umher. Ein wilder Tanz, ein Rausch, der einen betäubt.

Da nehme ich seine Hände, die linke mit meiner linken, die rechte mit meiner rechten, fest, aber nicht zu fest. Halte gegen seinen Druck. Er will sprechen, will lachen, ein Fisch sein, der sich herauswindet. Ich bitte ihn zu schweigen. Wir schauen uns an. Ich atme ein, langsam. Atme aus. Atme ein, atme aus. Es wird gedämpfter um uns herum, langsamer, als hätte man den Regler eine Viertel Umdrehung zurückgedreht. Er ist jetzt ganz da, bei mir, und wir sind uns nah.

Ich denke oft an ihn, wenn ich in mir jenen flügelschlagenden Kolibri spüre, mich überdreht und überspannt fühle wie eine Spule. Windup Woman. Es fehlt ein zweites Paar Hände.

Adaption

Sie sei ausgegangen, erzählt Ruth, mit einer Kollegin, die sie eher flüchtig kannte, auf ein Konzert einer unbekannten Band in einem kleinen Club. Die Musik hätte ihr nicht so sehr gefallen, deshalb habe sie sich die Menschen angeschaut, besonders gefallen hätte ihr der Türsteher. „Guck, guck!“, hätte sie die Kollegin in die Rippen gestupst, „sieht der nicht ein bisschen aus wie James Hatfield?“. Und tätowiert sei er auch gewesen. Ich nicke, ich weiß, was Ruth an einem Mann gefällt.
Nach dem Konzert hätten sie sich noch mit ein paar Leuten unterhalten, wen man halt so kennenlernt, genauer: wen Ruth eben so kennenlernt, sie kann sehr witzig sein, eloquent und voller Lebendigkeit. Die Kollegin hätte still und schüchtern daneben gesessen. Irgendwann hätte sich auch der Türsteher zu ihnen gesellt, er hatte schon Feierabend, und als der Club kurz darauf zu machte, seien sie noch woanders hin gegangen.
Dann sei die Kollegin aufs Klo verschwunden, man hatte ja auch schon einiges getrunken. Als sie nach einem gerüttelt Maß Zeit nicht zurückkehrte, sei sie nachschauen gegangen. Sie habe an der Tür der Damentoilette geklopft, herausgekommen sei – der Türsteher, und ein wenig später auch die Kollegin.
Ein paar Tage später habe sie die beiden wieder getroffen. Sie sind jetzt ein Paar. Der Türsteher sei auf sie zugekommen, habe sie umarmt und gesagt: „danke!“. Angefühlt hätte sich das vor allem ungerecht. Die Kollegin habe sich im November von ihrem Freund getrennt, oder er sich von ihr, und war vor jenem Konzert nicht mehr unter Menschen. Und dann ein Abend und zack! Sie sähe halt gut aus, jene Kollegin, sei vor allem schlank, auch wenn sie nicht mehr ganz jung ist.
***
Mich bedrücken ja nicht die schönen Menschen, die mit einem Fingerschnippen einen Partner finden. Mich bedrücken eher die nicht so schönen Menschen, mit eher durchschnittlicher Persönlichkeit, die jemand finden, während man selbst alleine bleibt.
***
„Gehst du mit mir zum Speed-Dating?“, fragt Ruth. Been there, done that, und wollte mich danach in den Schnee legen und sterben. Aber ich bin ja älter geworden, kann besser umgehen mit Ablehnung, kann vielleicht sogar zwanzigfache Ablehnung in zwei Stunden überleben. Und wenn Ruth jemand findet, werde ich mich für sie freuen, oder zumindest überzeugend so tun, als ob.

ruecken

(ohne Titel)

Ich träume, daß ich in ein kleines Haus ziehe. Es gefällt mir wirklich sehr, fröhlich durchschreite ich die Räume. Im Wohnzimmer liegt Sand. Das stört beim Regale aufstellen, also fege ich ihn weg, aber darunter kommt nur noch mehr Sand zum Vorschein, immer mehr. Ich trete aus dem Haus und sehe, daß mich nur zwei Schritte vom Meer trennen. Das Haus ist auf Sand gebaut und wird bald vom Meer verschlungen werden. Allzu lang hatte ich ohnehin nicht vor, darin zu wohnen, sage ich mir.

Kröte

Er nannte sich Kröte. Er war klein in jener Zeit, als alle in die Höhe schossen, pummelig, unsportlich. Er bestand auf seinem Spitznamen, den selbst die Lehrer zu gemein fanden, die sonst immer wegschauten: wenn jemand in die Mülltonne gezwungen wurde, wenn jemand Hundekacke in die Schultasche gesteckt wurde, wenn ich verprügelt wurde.
Ich habe wenige Erinnerungen an diese Zeit. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Nur Fragmente, Erinnerungssplitter unter den Fingernägeln. Am meisten erinnere ich mich an die Musik – The Cult, Sisters of Mercy und natürlich The Cure – und an das Leben außerhalb der der Schule – Spaziergänge mit meinem Hund, Landschaften, Jahreszeiten, der Geruch von Erde und Regen. Dann an das Neonlicht in der Schülerbücherei, in der ich relativ ungestört diese unsäglichen Jahre weghiberniert habe.
Klassenfahrt nach Hamburg, 7. Klasse. Uns schwäbischen Dorfkindern wurde über die Mittagszeit eine Stunde Ausgang in der Großstadt gewährt, ohne Lehrer, um 14 Uhr sollten wir uns wieder beim Reisebus einfinden. Es wurde 14 Uhr, einer fehlte: Kröte. Es stellte sich heraus, dass ein paar Jungs ihm gesagt hatten, man würde sich erst um 15 Uhr treffen. Ein übler Streich, der Urängste befeuert: allein gelassen zu werden, von der Gruppe abgeschnitten, zurückgelassen. Geschnitten haben wir uns aber ins eigene Fleisch: die Jungs hatten nicht bedacht, dass wir alle auf Kröte warten mussten. Es gab ja noch keine Mobiltelefone.
Ich kann mich zwar an diese Demütigung von Kröte erinnern, vielleicht auch noch an einige andere; in meiner fragmentierten Erinnerung zählte er aber eher zu den coolen Jungs, zu denen, die die Macht und das Sagen hatten. Jedenfalls hing er immer mit denen rum. Er trug HipHop-Klamotten zur genau richtigen Zeit. Ein Trendsetter: weite Bermudas, lange T-Shirts, das sah echt gut aus an ihm. Er war witzig. Er war smart. Er war – oder er wurde? – zu einem Hofnarr, zu einem, den sie in ihrer Nähe duldeten. Ein Gegenentwurf zu meiner Strategie, mich aus allem rauszuhalten, mich zu isolieren, zu dissoziieren. Sein Weg wäre nicht mein Weg gewesen, aber erst jetzt, viele Jahre später, beginne ich zu verstehen, wieviel Kraft und wieviel Mut ihn das gekostet haben mag. Auf eine gewisse Weise bewundere ich das, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das schrecklich klug von ihm war oder schrecklich dumm oder beides.

Ich würde gerne wissen, was aus ihm geworden ist, und ich würde gerne wissen, warum ich gerade jetzt an ihn denken muss.

(ohne Titel)

„Oh, und bevor ichs vergesse – ich frage dich einfach mal. Vielleicht weißt du ja eine Antwort. Wie kann ich meinem Leben einen Sinn geben?“

Wir schlendern über den abendlichen Schloßplatz, unser gemeinsamer Tag ist fast vorbei. Die Polizeiabsperrgitter lehnen unbenutzt an einer Wand; hinter uns trommelt ein verloren wirkendes S21-Demonstrantengrüppchen. Er grübelt, und sagt dann:

„Such dir doch einen Typen auf Twitter!“.

„Was ist das denn für eine patriarchale Kacke!“, lache ich und meine: dem Leben einer Frau Sinn und Wert geben durch einen Mann.

„Aber nein, ich meine doch…“, er zögert, sucht nach Worten, findet sie und sagt: „Es gibt nichts Größeres als die Liebe.“

Schlossplatz

Lob

„Sie haben Ihr Versprechen gehalten!“, strahlt der Zeitschriftenmann. Die Zeitschrift, die ich wollte, hatte er gestern nicht, und so versprach ich, morgen wiederzukommen. Ich bin überrascht, dass er sich an mich erinnert; ein wenig aus dem Skript geworfen, das in solchen Situationen angebracht ist.

„Es gibt viele Leute, die Zeitschriften verkaufen“, sage ich, „aber wenige, die so freundlich sind wie Sie.“

Der Zeitschriftenmann freut sich, so etwas nettes hätte ihm schon lange niemand mehr gesagt. Ich finde, dass die Menschen viel zu oft sagen, wenn etwas nicht in Ordnung ist, und viel zu selten, wenn es gut ist, und das sage ich ihm auch, ein wahrer, aber vielleicht zu ernster Satz für eine Bahnhofsunterführung.

***

Die Chefs unseres Unternehmens hatten ein Meeting, die kleinen wie die großen. Danach zwinkert mir der eine oder andere zu, schließlich kommt einer in mein Büro und sagt in verschwörerischem Ton:

„Sie sind heute übrigens sehr gelobt worden.“

Mein Einsatz war wohl Thema beim Meeting, war wichtig genug, um vor allen angesprochen zu werden. Und ich lächle, aber in mir drin ist mir nach schluchzen, ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil ich so viele Jahre hinter mir habe, in denen es nie genug war, nichts, und kein freundliches Wort, niemals. Es verunsichert mich, es wirft mich aus meinem Skript, ich muß den Umgang damit erst lernen, in kleinen, unsicheren, staksigen Schritten.