Ich bin müde heute, und weiß gar nicht so richtig, wovon. Ich bin müde, dabei ist die Sonne noch gar nicht untergegangen. Frau Novemberregen telefoniert noch, ich sehe sie in der Videokonferenz, sie hat ein sehr ernstes Gesicht. Gerade bin ich noch einmal aufgestanden vom Schreibtisch und ins Schlafzimmer gegangen, habe das Bettzeug aufgeschüttelt und aufgedeckt, mein eigener Turndown Service, damit ich nachher direkt ins Bett schlüpfen kann. Das Licht scheint warm und sanft und ockergelb ins Zimmer, gleich geht die Sonne unter.
Frau Novemberregen hat eine gute Frisur heute, sehr füllig, morgen geht sie zum Friseur, das ist eigentlich gar nicht nötig. Obwohl, je länger ich hinschaue, umso mehr sehe ich das fehlen einer Schärfe, das leicht punkige, das ihr so gut steht, weil es zeigt, wie sie ist. Ich bin gespannt auf nächste Woche.
Frau Novemberregen reden über dies und das, vor allem über das Büro. Manchmal sprechen wir auch über unsere Eltern oder gemeinsame Freunde, ganz normale Unterhaltungen, aber nichts, was man aufschreiben könnte. Es ist ja immer schwierig, über andere zu schreiben, wenn sie ihre Zustimmung nicht geben können. Deshalb geht es hier so oft um mich, und alles nur Fragmente.
Frau Novemberregen würde sich gerne streiten. Erst wirft sie mir vor, ich hätte die Blogtermine um WmdedgT herum geplant – ich sehe gar nicht, wie mir das einen Vorteil hätte bringen können – und jetzt unterstellt sie mir, ich würde auf Twitter immer fragen, worüber ich bloggen soll. Heute jedoch nicht, heute habe ich ein Thema vorbereitet. Es wird ihr nicht gefallen. Es gefällt ihr ja so einiges nicht, dass ich gerne über das „new normal“ nach COVID-19 nachdenke, dass ich den Begriff „new normal“ gerne verwende, dass ich die Spülmaschine offen stehen lasse, und über richtig Händewaschen haben wir auch schon lange nicht mehr gesprochen. Frau N. bzw. ihre Tochter hat uns beide mit dem Engel und dem Dämon aus „Good Omens“ verglichen. Der Engel möchte unter anderem die Welt wegen der kleinen charmanten Restaurants retten, wo man ihn persönlich mit Namen kennt. Darin erkenne ich mich wieder.
Mir fehlen die kleinen charmanten Restaurants, wo man mich mit Namen kennt.
Ich hätte ja gerne, dass Frau Novemberregen über den technischen Ablauf der Übergabe von per Eb*y Klein*nzeigen zu verschenkenden Gegenstände in Zeiten von COVID-19 schreibt, aber das macht sie wahrscheinlich nicht. Deswegen hier die Zusammenfassung für die Geschichtsschreibung: sie stellt die Sachen – für jeden Abholer erneut – auf das Fensterbrett im Treppenhaus. Genial.
Jedenfalls: ich schreibe heute über meine Buchempfehlungen. Im Kern soll es um postapokalyptische, aber nicht deprimierende Lektüreempfehlungen gehen, für diejenigen, denen bei dieser Vorstellung ein wohliger Schauer über den Rücken läuft. Weil aber der eine oder die andere aufgrund „der Umstände“ beim Gedanken an postapokalyptische Literatur vielleicht eher ein bisschen erbricht, werde ich mit den positivsten Lektüreempfehlungen beginnen, die ich im Repertoire habe. Dann folgen drei Empfehlungen für Spiele, die man während schlimmer Videokonferenzen oder milden Panikattacken auf dem Tablet spielen kann, und um die Postapokalypse geht es erst am Schluß.
Also:
Drei Bücher, die gute Laune machen
- Going Postal – Terry Pratchett: ein Trickbetrüger wird dazu verdonnert, in der irgendwo zwischen Renaissance und viktorianischem London angehauchten Großstadt Ankh-Morpork ein Postimperium (Briefpost, nicht Postapokalypse) aufzubauen. Dabei begegnet die Hauptfigur unter anderem einem Golem, Sammlern von Stecknadeln, einer kettenrauchenden und High Heels tragenden Aktivistin und vielleicht sogar der großen Liebe. Ein unterhaltsamer, fantasiereicher und witziger Roman, in dem sich die Dinge irgendwie ineinander fügen und am Ende alles wenn schon nicht gut, so doch deutlich besser wird.
- Among Others – Jo Walton: ein junges Mädchen kommt nach dem Unfalltod ihrer Schwester im England der 1980er ins Internat. Wir beginnen am Tiefpunkt, sie hat chronische Schmerzen, ist isoliert, findet dann aber mit Hilfe eines Lesezirkels, der auf Science Fiction (!) spezialisiert ist, zu neuer Kraft. Sie ist Waliserin und sieht seit ihrer Kindheit Feen und Hexen – sind diese Wirklichkeit, oder Zeichen ihres Traumas?
- Motherless Brooklyn – Jonathan Lethem: ein junger Mann mit Tourette Syndrom ist im New York der 1970er – bevor man noch wusste, was Tourette ist – Teil einer Gang von Kleinkriminellen. Als sein Anführer und Vaterfigur ermordet wird, setzt er alles daran, den Mörder zu finden, deckt dabei eine Verschwörung auf und findet zu sich und seiner Kraft. Selten eine so liebenswerte Hauptfigur gelesen. Es gibt auch eine Verfilmung mit Edward Norton, sehr sehenswert.
Spiele für schlimme Videokonferenzen oder milde Panikattacken
- I love hue: man sortiert Quadrate nach einem Fabrverlauf. Absolut mesmerisierend.
- Happy Color: Malen nach Zahlen. Oft sehr kitschige Motive, aber die Mandalas haben es mir angetan.
- Aquarium!: ein altes PopUp Java Spiel, bei dem Goldfische zu füttern sind, die dann Goldmünzen, äh, ausscheiden. Gelegentlich attackieren Aliens die Goldfische. Naja. Klingt jetzt nicht so, ist aber wirklich gut.
leichte postapokalyptische Literatur
Mir ist die Unterscheidung wichtig, denn es gibt auch schwere postapokalyptische Literatur (Marlen Haushofer – die Wand, The Road – Cormac McCarthy), falls man mal eine Depression triggern will. Die leichte postapokalyptische Literatur ist… hoffnungsvoll.
- The bone clocks – David Mitchell: In sechs Episoden von 1984 bis 2043 erzählt, und in jeder kommt Holly Sykes vor. Jede Episode ist schillernd, ein eigenes Buch, eine eigene Welt, in die man hineintauchen wird. Fast ganz am Ende bereut Holly, nicht noch eine weitere Insulinpumpe für ihr Enkelkind bevorratet zu haben – eine Szene, an die ich dieser Tage häufig denke.
- The last Policeman – Ben H. Winters: Die Welt wird enden, in etwa einen halben Jahr, durch einen Asterioden. Was würdest du tun, wenn du wüsstest, du hast nur noch sechs Monate zu leben? Die Hauptfigur bleibt Polizist und ermittelt in einem Selbstmord, der wohl doch ein Mord war, während um ihn herum die Welt langsam auseinanderfällt.
- Parable of the Sower – Octavia E. Butler: Eine junge Frau wächst heran in einem Amerika, das von Hitzewellen, Klimaveränderung, und Armut und Drogen geprägt ist. Noch scheint alles sicher, in dem abgeriegelten, aber nicht besonders wohlhabenden Wohnviertel, in dem sie lebt. Aber sie sieht die Veränderung kommen, sie bereitet sich vor, und als die Zerstörung eintritt, überlebt sie, zieht weiter und baut woanders etwas neues auf.
Du denkst zu schlecht von mir, ich nahm an, Du hättest die Blogtermine umsichtig so geplant, damit sie nicht mit dem WmdedgT kollidieren.
Die Bücher vom leider schon verstorbenen Terry Pratchett – besonders die Reihe der Scheibenwelt, aus der auch dieses stammt – sind alle sehr zu empfehlen! Köstliche Literatur zum entspannen. Bei „Gevatter Tod“ und „Wachen!Wachen!“ bin ich vor Lachen aus dem Bett gefallen.
Danke für die Spieleempfehlungen! Und die Bücher!! Und die Hoffnung durch den Science Fiction mögenden Lesezirkel!!! 😀
„Going Postal“ – eine sehr sympathische Wahl für die Empfehlungsliste. 🙂
Terry Pratchett wird m.E. ja deutlich unterschätzt, wenn man ihn – wie es viele Leute machen – einfach nur als amüsanten Fantasy-Onkel abtut. Für mich zumindest kann ich sagen, dass ich aus seinen Büchern mehr sinnvolles und praxistaugliches Wissen zu Themen wie Projektmanagement („Truckers“), Mitarbeiterführung / Abteilungsentwicklung (die „City Watch“-Romane) und Umstrukturierung / Change Management („Going Postal“) mitgenommen habe als aus so mancher „klassischen“ Fortbildungsveranstaltung. Sehr schade, dass es keine weiteren Werke von ihm mehr geben wird…
Vielen Dank für die Bücher-Empfehlungen!
Hab die ersten 2 Teile der The Last Policeman Trio in einem Rutsch durchgelesen, sehr gut.
Dystopie-Pandemie als -vielleicht oder auch nicht – Reality TV Event hab ich bei The Last One von Alexandra Oliva ganz gern gelesen.
Bzgl Postapokalypse fand ich die Broken Earth Trio von NK Jemisin war auch sehr gut, mit sehr interessanter Hauptfigur.
…oh, und Motherless Brooklyn und The Bone Clocks hatte ich vor einiger Zeit als Kindle Proben, war skeptisch aber hab auf Grund der Empfehlungen noch mal reingeschaut und bin jetzt bei MB gebannt mittendrin (danach dann Bone Clocks).