Barrowlands

The Cure brachten im November ein neues Album heraus, und ich holte einen großen, hellblauen Koffer aus einer versteckten Ecke meiner Abstellkammer. Der Koffer war aus Stoff, es fehlte ihm ein Rad. Ich war mit diesem Koffer als junge Frau ein paar Mal nach Großbritannien gereist, und wahrscheinlich auch noch anderswo hin, ich weiß noch, dass ich ihn als reduziertes Schnäppchen günstig erstanden hatte und er so hässlich war, dass ich ihn schon wieder beinahe schön fand.

Seit vielen Jahren hatte ich ihn nicht mehr geöffnet. Jetzt aber war Kassandra zu Besuch, und ich wollte ihr den Inhalt des Koffers zeigen. Wir legten ihn auf den Teppich meines Wohnzimmers, öffneten den Reißverschluss und trugen beinahe archäologisch Schicht für Schicht ab: viele Poster aus der Bravo und aus anderen Musikzeitschriften. Ein von einer Plakatwand abgelöstes Tourposter, wellig vom Kleister. Konzertfotos, überbelichtet, auf denen sich in der Ferne vielleicht Robert Smith erahnen ließe. Konzertkarten, viele. Ein Autogramm, gerahmt.

Und Videokassetten. Gekaufte und welche, die ich auf dem Camden Market erstanden hatte, Bootlegs also, teuer waren die, das weiß ich noch. Und eine ganze Reihe von Tapes, manche mit rätselhafter Beschriftung, von mir selbst aus dem Fernsehen aufgenommen.

Das man das damals gemacht hat. Fernsehsendungen mit dem Videorecorder aufgezeichnet.

Sofort ist bei mir alles wieder da: die Haptik, das Geräusch der Kassette, wie sie vom Rekorder eingezogen wird. Das richtige Drücken der Knöpfe zur richtigen Zeit, das intensive Studieren von Programmzeitschriften (überhaupt: Programmzeitschriften!). Der erste Videorekorder, der programmierbar war, die Stunden des Nachtprogramms von MTV, die ich damit aufgezeichnet habe, und in denen die wirklich coolen Dinge liefen. Die Entscheidung, welche Kassetten wann und wo wieder überspielt werden musste, weil leere Videokassetten teuer und das Taschengeld knapp war.

Kassandra und ich halten die Videokassetten in den Händen, und das ist dann auch schon so gut wie alles, was wir damit tun können, denn: ich habe keinen Videorekorder mehr. Erst ein paar Wochen später gelingt es mir, einen zu organisieren, und mich daran zu erinnern, wie man so ein Teil anschließt. SCART-Kabel und so.

Ich lege eine Kassette ein, Barrowlands steht darauf in meiner Handschrift, die mir fremd vorkommt. Das Bild, das erscheint, ist krümelig und vor allem im Format 4:3. Ungewohnt. Der Ton ist schlecht. Ich hatte vermutet, Barrowlands könnte ein Film sein, ein Fantasy-Film vielleicht, so wie Willow oder Legende. Es erscheint aber The Cure, und zwar in ihrer ungewöhnlichsten Bandzusammenstellung: Andy Anderson am Schlagzeug, Porl Thompson an der Gitarre, Phil Thornalley am Bass, und Lol Tolhurst am Keyboard. Und Robert Smith natürlich, der ist ja immer dabei.

Sie spielen laut und schnell, es ist viel Punk im Post-Punk. Robert schwitzt und seine Haare verspotten die Schwerkraft. Bei einem Song bauen sie ein zweites Schlagzeug auf, für Lol, der früher Schlagzeug gespielt hat. Es ist ein Fiebertraum.

Ich rechne nach. 24 war Robert damals, vielleicht 25. Er hatte schon sechs Studioalben veröffentlicht, vielleicht auch sieben, je nach dem wie man sie zählt. Die Band war einmal auseinandergebrochen und wieder zusammengefügt worden, er war zwischendurch bei einer anderen Band, nämlich den Banshees, und Simon würde bald wiederkommen. (Ich selbst war mit 24 oder 25 ziemlich ziellos, studierte irgendwas rum, war in Berlin, und fiel ständig durch Organische Chemie durch. Es wurde dann aber zum Glück doch alles irgendwann gut.)

Was mich aber, seitdem ich diesen hellblauen Koffer geöffnet habe, nicht mehr loslässt, das ist das Nachdenken über die Brüchigkeit der Medien: das Papier, das mir unter den Fingern zerbröselt. Die Speichermedien, für die es keine Abspielgeräte mehr gibt. Dateiformate, die nicht mehr erkannt werden. Die Kassetten entmagnetisieren sich, verlieren Ton- und Bildqualität, und alles verschwimmt in weißem Rauschen.

Wir können retten, restaurieren, kopieren, überspielen. Eigentlich ist das Problem aber gerade jetzt noch viel größer als früher. Denn bei Spotify, Prime oder Youtube besitzen wir gar nichts mehr, wir leihen nur, und alles kann mit einem Klick durch eine willkürliche Entscheidung verschwinden.

Als ich jung war, wurde uns eingeflößt: das Internet ist für immer. Eine Weile stimmte das sogar, und mit zwei oder drei Stichwörtern tauchten die seltsamsten Forenbeiträge auf, die ich selbst geschrieben und schon lange vergessen hatte. Jetzt hat das Internet gelernt zu vergessen, denn es wird nicht mehr durch die großen Suchmaschinen indiziert. Mit AI geht die Welt noch einen Schritt weiter, denn wir werden durch sie verlernen, selbst zu googeln.

Das letzte Kapitel eines meiner liebsten Bücher, The Bone Clocks, spielt in 2043. Das Internet gibt es nach einer globalen Krise nicht mehr, sondern nur noch The Thread: ein Faden statt eines Netzes, und gelegentlich erwischt man einen Teil dieses Fadens und kann eine Nachricht austauschen. Die Hauptfigur Holly bereut vor allem, dass alle Fotos aus der Cloud verschwunden sind. Übriggeblieben ist nur ein einziger schlechter Papierausdruck eines Fotos ihrer Tochter, die sie tausendfach fotografiert hatte.

Das alles macht mich melancholisch, ein bisschen traurig auch. Bedrückend, politisch gesehen. Aber irgendetwas daran fühlt sich auch leicht an. Dass von uns nichts bleibt. Staub. Vielleicht ein Polaroid. Schnipsel eines Songs. Ein kurzes Video. Eine zufällig konservierte Musikkassette, beschriftet mit: Fragmente’s Mix. Erinnerungen, Bilder im Kopf, ungenau, zufällig. Vergänglich.

(Barrowlands – eigentlich „The Barrowland Ballroom, Glasgow“ – ist übrigens aktuell noch auf YouTube.)

Vorsätze

Ich habe schon lange keine Neujahrsvorsätze mehr.

Ich bin die beste Version meiner selbst.

Dieser Satz ist mit Stolz zu lesen, und mit Bedauern. Mehr geht nicht. Das Potential ist ausgeschöpft. Es steckt keine andere mehr in mir drin, keine Matroschka, die es zu enthüllen gibt, kein Diamant, der mit Hammer und Meißel und aller Kraft aus dem Gestein herausgebrochen werden müsste. Nein. Das hier – that`s it.

Wenn ich fast zuhause bin, dann wird die Straße ganz gerade, flach und breit. Man kommt mit achtzig von der Landstraße, bemerkt das Ortsschild kaum, hinter dem ein Spazierweg quert und den Wald links mit der Wiese rechts verbindet. Manchmal tauchen Hunde auf, leuchtende Neon-Ringe um den Hals, Kinder auch in ihren dicken Winterjacken mit den Reflektoren, Laika und ihre Kosmonauten.

Dort ganz bewusst langsamer fahren, das habe ich mir vorgenommen. Groß genug sein für mehr als eine Wahrheit. Be soft and kind, but take no shit.

2024

Was für ein Jahr.

Im Januar habe ich ein Selfie von mir gemacht, in meinem Büro, kurz nach dem mich der CEO sehr höflich – aber wie das bei CEOs so ist, auch sehr bestimmt – gebeten hatte, eine größere Rolle zu übernehmen. Auf dem Selfie sehe ich geschockt aus, die Augen stecknadelgroß, denn ich wusste, das dies einer jener Momente war, der das Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt. Wie groß die Rolle sein würde, habe ich dann doch erst nach und nach so richtig verstanden, denn ich bin nun nicht nur für andere Geographien außerhalb von Deutschland zuständig, sondern auch ein Teil des Gremiums, das das Unternehmen in Europa leitet.

Man kann daher sagen, dass ich 2024 vor allem gearbeitet habe. An Sachthemen, an Präsentationen, an meinem Netzwerk, an mir selbst und an der Rolle, für die ich einige Parameter setzen darf und auch setzen muss, damit sie mich nicht gänzlich auffrisst.

Es ist auch ein wenig Abschiedsschmerz dabei von dem, wofür jetzt erst einmal keine Zeit mehr bleibt, aufgewogen durch unvergessliche Momente: das erste Meeting des Gremiums, ausgerechnet in jener osteuropäischen Stadt, in der mein Vater geboren ist. Das erste gemeinsame Dinner, bei dem der CEO über seine Lesebrille schaut und in die Runde fragt and who wants Oysters? Meine erste Präsentation, und in der Kaffeepause danach zieht mich mein Chef zur Seite, fasst mich an beiden Schultern und sagt: „Fragmente, das war wirklich 1A!„. Ich kenne ihn lange genug, um an seiner Stimme zu hören, dass er ehrlich beeindruckt ist.

Ich fliege meine Mutter ein, wir suchen das Geburtshaus meines Vaters und finden es nicht, aber ich weiß, er wäre stolz auf mich, hätte sich über mich und für mich gefreut, auch wenn er mich nie wegen meiner Leistungen geliebt hat, sondern weil ich bin, wie ich bin.

Ich arbeite, ich bin auf Dienstreise, ich optimiere das Kofferpacken. Überhaupt muss alles immer optimiert sein, weil so viele Momente auf Kante genäht sind, dass so gut wie kein Raum für Ungenauigkeiten bleibt. Ich sitze viel mehr als jemals sonst in meinem Leben vor Kalendern und plane meine Zeit, beruflich wie privat, jede Woche aufs neue, jeden Monat, fast jeden Tag. Was nicht kalendiert ist, neigt dazu, nicht stattzufinden.

Ich gehe ins Coaching, und ich arbeite an mir, und ich lerne mehr und mehr, die Parameter zu setzen, und die Momente, in denen mir die Dinge gelingen, mehren sich. Ein weiteres Treffen des Gremiums, Skandinavien dieses Mal, „nice presentation“ sagt der CEO, und abends sitzen wir alle gemeinsam an einem großen Tisch, alle sind entspannt, irgendwo spielt ein Akkordeon, und ich gehöre dazu.

Nach einem schwierigen Sommer stellt sich dann im Herbst ein vertrautes Gefühl in der Rolle ein. Mir fällt vor allem auf, dass meine Unzufriedenheit und auch einige der Konflikte aus dem letzten Jahr damit zu tun hatten, dass meine vorherige Rolle ein bisschen zu klein für mich war. Jetzt passt es, zumindest empfinde ich es gerade so, und ich hoffe, dass es so bleibt, denn das hier war der größte und vielleicht letzte Karriereschritt in meinem Erwerbsleben.

Mir bleibt also von 2024 vor allem die Arbeit in Erinnerung. Bluesky zeigt mir, dass ich auch oft glücklich war. Ein gutes Jahr? Ein unglaubliches Jahr.

Pacifico

Der Pazifik wurde von einem Spanier entdeckt, Vasco Nunez de Balboa, und benannt hat ihn ein Portugiese, der im Auftrag des spanischen Königs die Welt umsegelte: Ferdinand Magellan. Ich finde das eine ziemlich blöde Vorstellung, dass jemand den Pazifik entdeckt. Den Pazifik gibt es schon ewig, länger als es Menschen gibt: 750 Millionen Jahre. Und Balboa war ganz sicher nicht der erste Mensch, sondern lediglich der erste Europäer. Der erste, der lebte und davon berichtete, ernst genommen wurde, in ein Geschichtsbuch geschrieben wurde, Und jetzt sind überall Sachen nach ihm benannt: Parks, Alleen, Denkmäler und sogar ein Krater auf dem Mond. Dabei war er ein ziemlicher Schurke, er plünderte und beutete indigene Menschen aus, und wurde am Ende selbst getötet – natürlich von einem anderen Europäer.

Ferdinand Magellan nannte den Pazifik „die friedliche See“, weil ihn die Stürrme, die ihn in der Magellanstraße gequält hatten, endlich verliessen. Tatsächlich gibt es im Pazifik Hurrikane, Zyklone und Taifune, es ist eben alles subjektiv.

Ich selbst habe den Pazifik letztes Jahr entdeckt, und ich fand ihn vor allem: groß. Ein kleines Wort, das nicht ausdückt, was ich gefühlt habe. Der Paziffik, finde ich, macht die Unendlichkeit spürbar. Er bedeckt mehr als ein Drittel der Erde, und man guckt drauf und denkt sich: stimmt. Ironisch, dass ich selbst die Hälfte meines Lebens gelebt habe, ohne jemals vorher den Pazifik gesehen zu haben. Aber das gilt ja für vieles.

Der Pazifik hat auch etwas in mir groß gemacht. Er hat Platz geschaffen in meinen Hirnwindungen und neuronalen Netzwerken, zwischen Brustkorb und Milz.

Ich bin jetzt ein paar Monate in meiner neuen beruflichen Rolle. Wie groß die ist, habe ich geahnt, aber erst kürzich so richtig begriffen. Vor allem begreift man so etwas beim Reisen an die anderen Standorte. Ich konnte dabei zuhören, wie sich die neuen Synapsen in meinem Gehirn knisternd mieinander verbunden haben. Das war sehr schön, hat mich aber auch mit so etwas wie Ehrfurcht und Demut erfüllt.

Es ist keine ruhige See, dieser neuer Job. Manchmal bin ich schlecht gelaunt und würde mich lieber irgendwo in einer Hängematte auf einer Bananenplantage wünschen. Da gibts natürlich auch Tropenstürme, schon klar.

Es ist keine ruhige See, aber das Blau ist traumhaft schön, alles weit und groß, neu zu entdecken von mir, auch wenn ich nicht die erste oder einzige bin.

Die Expedition von Magellan hat die Welt umrundet, so etwa um 1522 herum, mit Schiffen aus Holz. Seine technischen Hilfsmitteln waren: Sanduhr und Sextant zur Ermittlung des Breitengrads. Längengrade konnte man damals noch nicht bestimmen. Man stelle sich das einmal vor: sich der Unendlichkeit stellen, in einer Nussschale, mit einer Sanduhr.

Magellan ist darüber wahnsinnig geworden. Religiöser Wahn und Selbstüberschätzung. Er starb, ohne die Welt umrundet zu haben, irgendwo in der Nähe der Phillippinen. Der erste Mensch, der die Welt in einem Boot umrundet hat, war wahrscheinlich kein Europäer, sondern ein Sklave Magellans, von ihm Enrique Melaka benannt. Er begann seine Reise nicht in Europa, sondern im Pazifik, und beendete seine Umrundung daher viel früher als alle anderen.

Unter den 35 überlebenden Europäern war auch ein ganz besonderer Mann: Antonio Pigafetta begleitete die Expedition Magellans als Schreiber, vielleicht sogar: Schriftsteller. Er führte Tagebuch und schrieb Reiseberichte. Ein Logbuch. Ein Weblog. Ein Festhalten. Ein Tropfen im Ozean der Zeit.

20

Heute vor 20 Jahren habe ich dieses Blog begonnen, das hier war der erste Eintrag. Ich war Anfang zwanzig, ziemlich verloren, wie das in diesem Alter eben so ist, nach Berlin gezogen, wie alle Leute aus der Provinz, und schrieb so vor mich hin. Natürlich auch wegen Sex, also, um welchen zu kriegen, das hat rückblickend auch ganz gut geklappt. Das mit der Liebe nicht so, vielleicht kann ich dazu in nochmal zwanzig Jahren etwas anderes berichten.

2004 war das Internet noch recht jung, es gab noch kein Twitter, man kommunizierte per Blog oder in den Blogkommentaren und traf sich bei selbst organisierten Lesungen in Hinterhöfen. Als Twitter kam, für mich war das 2007, fingen wir an, dort virtuell abzuhängen, manche der Freundschaften, die sich dort entwickelt haben, halten bis heute. Es ist schade, dass sich mit dem Verschwinden der Plattform auch die Gemeinschaft etwas zerläuft, kann aber gut sein, dass das eher an mir und/oder der Altersphase liegt. Die Zeit wird weniger.

Gerade habe ich wirklich gar keine Zeit, kaum noch, um diesen Eintrag zu tippen. Meine Karriere hat noch einmal einen Sprung nach vorne gemacht und wird mich dieses Jahr ziemlich beanspruchen, bis ich mich auf dem neuen Niveau eingependelt habe. Das Berufliche ist sowieso eine große Überraschung, am meisten für mich selbst. Nach Studium und Promotion gab es einen tiefen Fall, fast ein Jahr, und dann habe ich mir etwas ganz neues aufgebaut, das man die ersten Jahre nur Überleben nennen kann, irgendwann Geld verdienen und erst seit ein paar Jahren Karriere.

Ich habe meinen Vater durch seine Krankheit begleitet bis in den Tod hinein, habe an seinem Sterbebett gesessen, und das war ein viel größerer Meilenstein als alles, was jemals in einem Büro, einem Konferenzraum oder an einer Universität passiert ist.

Im Rückspiegel wirken manche Dinge schlimmer, als sie mir damals vorkamen. Ich habe immer weitergemacht, weitergeatmet, wie damals bei meiner Lungenembolie. Ist ja auch alternativlos.

Vielleicht kommen mir deshalb die schönen Dinge, die ich erlebt habe, ganz besonders schön vor. Mit den Freundinnen auf der Wiese liegen und den Sternschnuppen beim Fallen zuschauen. Im Auto sitzen und über das Leben reden. Die unzähligen Stunden, die mir Novemberregen geschenkt hat.

Und wer hätte gedacht, dass ich so oft The Cure habe sehen dürfen, wirklich schön war das. Und all die Orte, an denen ich war: in der Wüste und im Packeis. Tromsø, Venedig, Oman. Der Zahntempel Buddhas bei Sonnenuntergang. Das Meer. Der Minky Whale, wie er lange mit dem Schiff spielt. Die Golden Gate Bridge, Alcatraz, und dahinter die Fontänen von Blauwalen. Delphine in Venice Beach. Robben, Seelöwen, Seeelephanten. Badeseen und Schwimmflossen. Nice little restaurants where they know your name. Nicht-Orte.

Ich warte auf die Pointe der Geschichte,
die mein Leben ist

aber es kommt keine.

Schrieb ich im Juni 2004. Ich würde das heute so nicht mehr schreiben, dieses Gefühl ist weg. Ich gehöre hier her. Ich bin – ohne genau zu wissen, wie es passiert ist – die Frau geworden, die ich sein will.

fertiges und halbfertiges

Ich bin, glaube ich, fertig, also fertig mit den Weihnachtsvorbereitungen und damit auch fertig mit dem Jahr. Alle Geschenke sind gekauft und geliefert, verpackt und übergeben. Es gab sogar schon ein paar von anderen für mich. Das Weihnachtsmenü ist geplant, ich war schon einkaufen und der Kühlschrank ist voll – wahrscheinlich reicht es bis Silvester.

Ich habe den ganzen Dezember über immer mal wieder ein Zimmer geputzt, und zwar so richtig gründlich: im Bad und in der Küche ausgemistet, ein oder zwei unschöne Ecken mit mit einem Korb aufgewertet, die Dusche geschrubbt, Kleidung aussortiert, Fenster geputzt, die Küchenmöbel abgewischt. Der Adventskranz und die Weihnachtspyramide stehen und haben sogar schon ein paar Mal geleuchtet. Gestern wurden weihnachtliche Blumen geliefert. Ich besitze nun sogar drei Pyjamahosen mit weihnachtlichem Muster.

Insgesamt hatte ich schon viele Jahre nicht mehr so eine schöne Adventszeit. Ich war überraschend oft auf dem Weihnachtsmarkt, habe sehr gute Crepe gegessen und okaye Wurst, ich habe mich häufig mit Freundinnen getroffen und auch die Zeit allein zuhause sehr genossen, mit Musik und Zeit zum Lesen.

Gearbeitet habe ich auch, und mich Anfang Dezember sehr geärgert über ein Committee, dessen Mitglied ich nicht sein wollte, und bei dem ich abstimmen sollte für Sachen, bei deren Gestaltung ich kein Mitspracherecht hatte. Das ist dann alles leicht eskaliert, zwei CEOs waren auch dabei, einer immerhin derselben Meinung wie ich. Hinterher bin ich dann angerufen worden, kann sein, dass es eine subtile Drohung gab, mir den Bonus zu kürzen, kann aber auch sein, dass ich das missverstanden habe.

Jedenfalls: das mit dem European Head of wird nix mehr, ich möchte nämlich nicht mehr. Auch befreiend, das zu erkennen, auszusprechen, hinzutippen, anzuerkennen. Es ruckelt noch etwas in mir, wie das bei großen Veränderungen immer so ist. Es ist aber für mich schon jetzt, in diesen zwei oder drei Wochen, ein ziemliches Plus an Lebensqualität spürbar. Weil ich einen Hauch weniger mache, nicht immer alles ausschöpfe, was machbar und denkbar ist. Was mir wichtig ist, mache ich immer noch zu 100 Prozent. Das weniger wichtige auch mal nur halbherzig. Und ein paar wenige Sachen nun eben gar nicht mehr – ich glaube nicht, dass es jemanden auffällt, vielleicht findet der eine oder die andere, insbesondere außerhalb von Deutschland, meine fehlende Einmischung sogar sehr gut.

Die Datenlage ist noch zu schwach, es kann auch sein, das bei dem, was ich jetzt an Entlastung spüre, doch mehr externe Faktoren beteiligt sind, als ich glaube. Gerade wirkt es aber so, als ob die paar Prozentpunkte an Intensität, die ich aus dem Beruf rausgenommen habe, mir gerade sehr viel mehr Energie und Muße für anderes geben.

Für morgen habe ich mir vorgenommen, bis 17 Uhr zu arbeiten, und dann nur nch weihnachtlich zu chillen. Ich glaube, das werde ich schaffen.

30/30

Termin bei der Hausärztin gehabt. Sie war gerade selbst in Reha. Viel los bei ihr, man hat mich ins Labor gesetzt, fürs Behandlungszimmer hat es nicht gereicht. Die Ärztin steht sichtlich unter Zeitdruck, ist aber freundlich. Ich bekomme eine Einweisung ins Krankenhaus, ich soll in die Notaufnahme gehen, damit ein Ultraschall gemacht wird. Anscheinend ist das die einzige Möglichkeit, zeitnah an eine solche Untersuchung zu kommen.

Aus dem Home Office heraus einige Termine verschoben und in die Notaufnahme gefahren. Es war, anders als befürchtet, recht leer. Nach der Aufnahme (ich wollte den medizinischen Fachangestellten gegenüber einen Witz über die „digitale Patientenakte“ machen, habe es dann aber gelassen) rumgewartet und gelesen, irgendwann sagte irgendwer zu einer mitwartenden Frau, die Ärzte seien jetzt gerade beim Mittagessen.

Es kamen dann zwei Ärzte vom Mittagessen zurück, einer gut gelaunt, einer nicht so. Der gut gelaunte Arzt hat sich sehr nett um einen Patienten im Rollstuhl gekümmert, der kognitiv etwas eingeschränkt war.

Ich ringe nach einem anderen Adjektiv, „nett“ ist natürlich nichtssagend, immer. Es war so: der Arzt hat sich dem Mann im Rollstuhl vorgestellt: „ich bin der Herr X“, und der Mann hat gesagt: „ich bin der Florian!“, und der Arzt hat gesagt: „ah, wir duzen uns! Ich bin der Markus“, und hat ihn ins Behandlungszimmer gefahren. In den Nuancen war spürbar, dass der Arzt den Patienten als Person wahrgenommen hat. Das ist ja bei weitem nicht immer so.

Zu mir war er dann auch sehr nett, sehr interessiert, hat nach meinem Doktortitel gefragt, was ich beruflich jetzt mache, ich habe kurz über *fast ein Jahr* gesprochen, er hat erzählt, dass er „sanktionsfrei“ unterstützt. Zwischendurch hat er mich geultraschallt, die befürchtete Komplikation habe ich nicht, aber ich sollte mich in absehbarer Zeit operieren lassen.

Alles in allem also ein ganz gutes Ergebnis, und gewartet habe ich auch nur etwa zwei Stunden. Arztbesuche und Krankenhaus erschöpfen mich leider immer sehr.

Bei meiner Hausärztin gilt wieder Maskenpflicht. In der Notaufnahme war ich die einzige mit Maske. In der Apotheke, wo die Schlange fast bis zum Ausgang reichte, trug außer mir noch eine von zwei Apothekerinnen Maske. Mittel gegen Erkältungssymptome waren sehr gefragt.

Und so sind sie vorbei gegangen, weitere 30 Tage täglich bloggen. Ich werde ein bisschen auf Papier weiterschreiben, und hin und wieder auch hier. Es fehlt ja noch ein Eintrag zu „Ripples“. Die Erkenntnis und der Vorsatz ist es, die freie Zeit bewusster zu verbringen, weniger zu scrollen, mich mehr freimachen von dem, was ich zu tun verpflichtet zu sein glaube. Mehr lesen, mehr Musik hören, mehr unternehmen. Damit dafür genügend Akku übrig bleibt, ein bisschen weniger arbeiten. Mehr schreiben. Besser schreiben.

28/30

Im Stockdunklen frühmorgens zwei Outdoor-Teppiche vom Balkon geräumt und den riesigen Oleander an die Hauswand geschoben. Der Frost kommt. Ich hatte das mit den Teppichen natürlich schon seit vier Wochen auf der Liste, aber immer hakte es irgendwo. In den letzten Tagen hat es zum Beispiel sehr viel geregnet. Die Teppiche überwintern auf dem Dachboden, sollen da aber nicht nass liegen.

Heute beim Kaffee wurde mir dann klar, dass der perfekte Zeitpunkt nicht mehr kommen wird. Also die Teppiche eingerollt und in der Dusche und Badewanne zwischengelagert. Leicht fluchend den Weg von der Balkontür zum Badezimmer aufgewischt, aber sonst kam ich mir klug vor.

Es ist so ein altbekanntes und dennoch faszinierendes Phänomen, dass die Aufgaben, die man am längsten vor sich her schiebt, meistens recht schnell erledigt sind.

Der Rest des Tages war auf sehr angenehme Weise ereignislos. Der Druck lässt nach. Ich glaube, es geht mir besser.