Am Anfang, so Mitte März, hatte ich eine falsche Vorstellung von der freien Zeit, die mir zur Verfügung stehen würde. Es war schon abzusehen, dass wir ins Home Office gehen würden, bis Ostern, dachte ich damals. Ich hatte Sorge, dass die Bandbreite nicht ausreichen würde, wegen alle, die per VPN von zuhause arbeiten oder nicht arbeiten und netflixen. Hintergrund war, dass der Knotenpunkt DE-CIX im März einen neuen all time peak von 9 Terabyte pro Sekunde erreicht hatte. Ich verstand und verstehe aber zu wenig, um diese Information korrekt einordnen zu können, wir hatten auf jeden Fall weiterhin genügend Internet, manche vielleicht zu viel. Ich hatte extra noch ein paar Bücher gekauft, Papierform, nicht dass mein Stapel ungelesener Bücher nicht schon hoch genug war, aber kein Internet und nicht genügend Bücher, das hat mir wirklich Angst gemacht.
Tatsächlich habe ich dann aber bis Ostern gearbeitet wie verrückt, ständig Anrufe und Videokonferenzen und Krisen und nur noch das nötigste. Erst nach Ostern, als wir uns stabilisiert hatten, wurde es besser, und ich konnte ein paar hundert ungelesene Emails abarbeiten.
Ich hatte damit gerechnet, mehr Zeit zu haben. In Wirklichkeit ist es eher eine Zeitverschiebung.
Die Zeit und ich, wir haben ein schwieriges Verhältnis miteinander, ich habe nie genug von ihr, ich kriege nie genug von ihr, und so langsam beginne ich zu akzeptieren, dass das wahrscheinlich bis zu meinem letzten Atemzug so sein wird. Und das ist nicht das schlechteste.
Jedenfalls – ich wollte die Zeitverschiebung kurz dokumentieren, jetzt ist das langweilig, ja, aber in zwanzig Jahren. Ich spare Zeit, möchten meine Finger tippen, aber das stimmt natürlich nicht. Ich wende aktuell keine Zeit mehr für das Pendeln an meinen Arbeitsplatz auf. Bäm, zwei Stunden pro Tag befreit, das sind zehn Stunden die Woche! Ich würde auch sagen, dass ich etwas weniger in Gespräche im Büro verwickelt werde, wobei die Leute weiterhin mit mir telefonieren und videochatten und emailen wollen, aber nicht so anlasslos. Die wichtigsten Dinge erfährt man oft aus solchen anlasslosen Gesprächen, es vermittelt mir einen Eindruck, und aus der Summe solcher Eindrücke entsteht dann oft etwas neues, kreatives, konzeptionelles. Und die ganz wichtigen Dinge im Büro, die passieren nach 17 Uhr, wenn die meisten schon nach Hause gegangen sind, ich mich kurz zu der Geschäftsführung setze oder umgekehrt, wir ins Reden kommen, und irgendwann geht die Schublade mit den Süßigkeiten auf, während wir den Atem des anderen einatmen. Ein Stück davon fehlt mir, ein Stück weit bin ich froh, davon frei zu sein, und ein Stück haben wir in den Monitor und die Videokonferenzen gerettet. Vier Stunden die Woche, oder mehr.
Statt einem langen Business-Lunch mit Freunden oder Kollegen oder beidem gibt es jetzt Ravioli oder Kartoffelsalat oder ein Brot auf der Hand vor dem Bildschirm. No more nice little restaurants where they know your name. Auch kein Karaoke mehr abends, oder am Abendbrottisch mit Francine und ihren Kindern, oder ein Steak, und die Bankentürme in der Nacht, die leeren Straßen und meine Schritte, klack klack klack. Wenn das alles hier vorbei ist. Auch so eine Phrase, aber meine Fantasie für wenn das alles hier vorbei ist: zu dem edlen Libanesen, eine Gruppe Freunde um den Tisch herum, und der Tisch biegt sich vor Mezze. Und wir sitzen und reden und lachen, irgendwann einmal Kaffee und Baklava. Sechs Stunden die Woche.
Ich verreise nicht mehr. Eigentlich wäre ich jetzt auf Expeditionsreise mit meiner Mutter, die sich gewünscht hatte, einen besonderen Teil der Welt zu sehen, bevor sie stirbt oder das Eis schmelzt, whichever applies first. Ich hätte mich vorbereitet und recherchiert und gepackt und vorgearbeitet. Auch kein kleiner Wochenendtrip zu Ninette und SGMaus oder nach Berlin oder München oder ans Meer. Im Durchschnitt vier Stunden die Woche.
Wohin hat sie sich verschoben, die Zeit?
Ich schlafe mehr. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich ausgeschlafen bin. Ich kann unter der Woche ausgeschlafen sein, fantastisch. Bisschen mehr Zeit für erotische Gedanken, für Männer, für Körperpflege.
Ich habe mehr Zeit für den Haushalt. Wenn es etwas gibt, dass ich über mich in dieser Pandemie gelernt habe, dann vielleicht das: ich bin gar keine schlechte Hausfrau. Ich bin sogar eine passable Hausfrau, zwei plus in Schulnoten. Die Wohnung ist so gut aufgeräumt, dass jederzeit Besuch kommen könnte. Oh, die Ironie! Der Keller ist top aufgeräumt. Mein Arbeitszimmer ist entrümpelt. Die Ablage ist gemacht. Ich liebäugle damit, die Steuererklärung zu machen. Meine To-do-Liste für den privaten Bereich ist so kurz wie noch nie, unglücklicherweise aber noch nicht leer.
Ich verbringe mehr Zeit auf Social Media, erstaunlicherweise aber gar nicht so viel mehr Zeit. Twitter ist Grundnahrungsmittel, egal, wie viel ich zu tun habe. Seit kurzen verschwende ich meine Zeit auch genüßlich auf TikTok, das macht mir viel Freude.
Das mit Abstand beste, was die Zeitverschiebung gebracht hat, sind die Spaziergänge. Seit Ende März – und damit auch im größten Arbeitsstress – gehe ich jeden Tag etwa eine Stunde mit meiner Mutter spazieren. Wir kennen mittlerweile jeden Briefkasten und Vorgarten, haben aber nach den Jahren, die wir hier schon wohnen, ganz neue Ecken entdeckt. Wiesen und Felder, eine Gruppe von Pappeln, Ried und kleine Wasserläufe. Wir haben Hasen gesehen und Rehe, Rebhühner und neulich sogar eine Schlange. Ich sehe, wie die Wiesen immer höher stehen, wie die Bäume und Büsche blühen und dann verblühen, die ersten Früchte sich bilden. Ich war lange nicht mehr so in Kontakt mit der Natur, mit den Farben und Gerüchen und dem Fortschreiten des Jahres durch die Zeit.
Es gibt keine Zeit, hat mal jemand gesagt – wir sind selbst die Zeit. Man kann die Zeit verstehen als eine mechanische Bewegung, Uhrzeiger auf einer Uhr, Planeten durch das Weltall. Zeit ist aber auch das, das wir erleben, in uns drin, und sie kann uns kurz vorkommen oder lang, intensiv oder gleichförmig. Am meisten aber lebt sie wie die Musik vom Tempowechsel, und deswegen bin ich – bei allem zarten Vermissen – glücklich, erleben zu dürfen, dass sie sich verschoben hat.