„Hat sich in Ihrem Leben in letzter Zeit grundlegend etwas verändert?“, fragt mich die Optikerin. Ich sehe nämlich auf dem rechten Auge manchmal schlecht. „Nehmen Sie Medikamente?“ Sie schaut mich streng an. Eine Ursache kann sie nicht finden.
Nachts träume ich von Crush. Ich sehe sein Gesicht glasklar, sehe jedes Detail seiner Gesichtszüge. Ich erzähle ihm von meinem rechten Auge, was ihn in einem Exkurs über die Physiologie des Sehens ausbrechen läßt. Zuhören kann ich ihm nicht, obwohl ich es verzweifelt versuche, aber mein Chef braucht mich: dringende Probleme, die nur ich lösen kann.
Am nächsten Tag gehe ich an ihm vorbei, dem echten Crush, sein Gesicht wie in meiner Erinnerung, die Jacke schwarz und nicht mehr grau wie noch im Herbst, das Blau seines Pullovers wie Tinte auf Briefpapier. Wir schauen einander an, zehn Schritte lang, und grüßen uns mit einem kaum merklichen Nicken. In mir zerrt meine Sehnsucht wie ein Bullterrier an einer Leine aus Leder. Ich würde mich gerne zu ihm setzen, einen Moment nur, mich mit ihm unterhalten, ihm nah sein, aber es gibt keine Nähe zwischen uns, nicht einmal, wenn unsere Hände sich berühren.
Ich weiß nicht, was er in mir sieht. Autoritätsfigur? Schräge Exzentrikerin? Irrer Clown? Vielleicht weiß er es selbst nicht, und fühlt sich deshalb so unsicher mit mir, obwohl ich das nicht will. Und ich? Ich werde nie rausfinden, wie er mich sieht. Ich werde nie mein eigenes Bild von ihm korrigieren können. Wir werden einander nicht erkennen.
Es fällt mir schwer, diese Ungewißheit auszuhalten. Ich verstehe, daß Obsessionen wachsen können aus einem Samen einer solchen Ungewißheit. Stattdessen denke ich an Karabinerhaken, die ich löse, Bindfäden, die ich durchschneide: loslassen, gehen lassen.
Hoffentlich weiß ich das noch, wenn ich ihn morgen wieder sehe.