Drei Tage, drei Ideen

1) Woher kommt das Bedürfnis, zu prokrastinieren, Dinge aufzuschieben?

Prokrastination ist ein fast schon im Übermaß durchgenudeltes Thema. Dieses Erklärungsmodell kannte ich noch nicht: als Erwachsene/r fehlt uns eine autoritäre Figur, die von uns bestimmte Dinge verlangt – zum Beispiel schreiben. Dabei stimmt das gar nicht: natürlich gibt es jemand oder etwas, dem sich jeder von uns beugen muss: der Zeit. Einen ähnlichen Gedanken hatte ich hier schon geäußert, ich war aber zu ironisch in meiner Haltung, um es ernst zu nehmen und annehmen zu können.
Von der Erkenntnis zur Veränderung ist es ohnehin ein weiter Weg. Vielleicht sollte man regelmäßig vor dem Rechner knien wie vor einem Altar, das Haupt beugen, Demut üben. Die meisten Schreibenden kennen den permanenten Drang, das Textdokument zu verlassen und im Internet zu surfen. Warum ist es so schmerzhaft, zu schreiben? Weil das, was man in Bits und Tinte festhält, niemals so gut sein kann wie das, was man im Kopf hat oder im Herz, wie die Vorstellung von der Geschichte, die man erzählen will? Wie mag es da erst den Filmschaffenden gehen… Ich versuche, zu üben, den Schmerz auszuhalten, zu umarmen, ihn mir wie eine Wolke vorzustellen, zu deren Mitte ich mich bewege. Bislang funktioniert das, und je mehr ich tippe, desto peripherer wird der Schmerz.

2) das Konzept des Schatten

Der Schatten ist ein Teil des Selbst, in dem sich alle negativen Eigenschaften, alle Schwächen und Makel eines Menschen konzentrieren, und den man vor anderen zu verbergen versucht. Gleichzeitig ist der Schatten eine Verbindung zum Unterbewusstsein und verwebt mit Kreativität und Lebendigkeit. Wer seinen eigenen Schatten kennt, schreibt besser Geschichten: Geschichten, die berühren, Tiefe besitzen und bei vielen Menschen Resonanz finden, weil sie von Archetypen erzählen.
Eine dieser Geschichten ist Ursula K. Le Guin’s „Erdsee-Zyklus“: der Zauberlehrling Ged öffnet ein verbotenes Buch, daraus entschlüpft ein Schatten, der nur unter größter Anstrengung von einem Meister zurückgedrängt werden kann. Der Zauberlehrling lernt, wird erwachsen und geht schließlich hinaus in die Welt, um Aufgaben zu meistern. Über allem scheint immer der Schatten zu liegen, eine kaum auszublendende Bedrohung. Eines Tages beschließt Ged, den Schatten zu konfrontieren und zu besiegen. Die beiden jagen einander um die halbe Welt. Schließlich können sie einander nicht mehr entkommen, und Ged gibt dem Schatten seinen eigenen Namen. Er erkennt, dass es sich um einen Teil von sich selbst handelt, und sagt: „ich bin [nun] ein ganzer Mensch, ich bin frei“.*
C. G. Jung, von dem das Konzept des Schattens stammt, begreift die Integration des Schattens in die Persönlichkeit als wichtiges Ziel innerhalb der analytischen Psychologie.

Der Therapeut Barry Michels arbeitet schwerpunktmäßig mit Drehbuchautoren aus Los Angeles. Deren höchste Hürde ist es, ihre Idee für einen Film oder eine Fernsehshow vor Produzenten zu pitchen. Michels schlägt folgende Übung vor:

To help a patient avoid freezing during a pitch—a problem that Michels attributes to trying to hide your Shadow from development executives—he’ll tell him to reassure his Shadow with the words “I love you and I care more about you than I do whether this pitch sells.” That is step one. Then he must invite the Shadow into the conference room, so that together they can address a silent scream—“Listen!”—to the assembled suits. “What it does is assert our—me and my Shadow’s—authority and right to have something to say,” Michels says. The third step takes place afterward, when, regardless of the outcome, the patient thanks the Shadow for its time, so that it knows the ego wasn’t just using it to get money. For writers, the analogy is clear: give the Shadow the respect you long for.

3) Part X

Part X beschreibt jenen Teil der Persönlichkeit, der voller Arroganz, Hypersentitivät und Launenhaftigkeit ist, der will, dass die Welt genau so ist, wie er sie haben will. Der innere Zweijährige, der Wutanfälle bekommt, weil der Trinkbecher nicht die richtige Farbe hat – es fallen einem zahlreiche Hollywoodpersönlichkeiten ein, die einen starken Part X haben. Warum eigentlich? Macht Part X die Menschen erfolgreicher, oder stärkt der Erfolg den Part X? Die meisten von uns müssen sich nämlich irgendwann damit abfinden, dass die Welt nicht so ist, wie wir sie haben wollen. Aber auch ohne ein Hollywoodstar zu sein, kenne ich die Wutanfälle des inneren Zweijährigen: kraftzehrend und völlig sinnlos. Michels meint, Part X sei der Teil in uns, der sich der Veränderung verweigert. Auch gut zu wissen.

Drei Tage, drei Ideen, die ich interessant finde und die viele neue Fragen aufwerfen.

Quellen:
Dieser Eintrag beruht in großen Teilen auf „Barry Michels, Therapist for Blocked Screenwriters“ und zitiert teilweise wörtlich daraus.
Der Erdsee-Zyklus von Ursula K. Le Guin ist bei Amazon zu finden und bei Wikipedia erklärt.
Der mit * bezeichnete Satz ist aus der 5. Auflage des bei Heyne erschienenen Sammelbad „Erdsee“ zitiert.

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