Er nannte sich Kröte. Er war klein in jener Zeit, als alle in die Höhe schossen, pummelig, unsportlich. Er bestand auf seinem Spitznamen, den selbst die Lehrer zu gemein fanden, die sonst immer wegschauten: wenn jemand in die Mülltonne gezwungen wurde, wenn jemand Hundekacke in die Schultasche gesteckt wurde, wenn ich verprügelt wurde.
Ich habe wenige Erinnerungen an diese Zeit. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Nur Fragmente, Erinnerungssplitter unter den Fingernägeln. Am meisten erinnere ich mich an die Musik – The Cult, Sisters of Mercy und natürlich The Cure – und an das Leben außerhalb der der Schule – Spaziergänge mit meinem Hund, Landschaften, Jahreszeiten, der Geruch von Erde und Regen. Dann an das Neonlicht in der Schülerbücherei, in der ich relativ ungestört diese unsäglichen Jahre weghiberniert habe.
Klassenfahrt nach Hamburg, 7. Klasse. Uns schwäbischen Dorfkindern wurde über die Mittagszeit eine Stunde Ausgang in der Großstadt gewährt, ohne Lehrer, um 14 Uhr sollten wir uns wieder beim Reisebus einfinden. Es wurde 14 Uhr, einer fehlte: Kröte. Es stellte sich heraus, dass ein paar Jungs ihm gesagt hatten, man würde sich erst um 15 Uhr treffen. Ein übler Streich, der Urängste befeuert: allein gelassen zu werden, von der Gruppe abgeschnitten, zurückgelassen. Geschnitten haben wir uns aber ins eigene Fleisch: die Jungs hatten nicht bedacht, dass wir alle auf Kröte warten mussten. Es gab ja noch keine Mobiltelefone.
Ich kann mich zwar an diese Demütigung von Kröte erinnern, vielleicht auch noch an einige andere; in meiner fragmentierten Erinnerung zählte er aber eher zu den coolen Jungs, zu denen, die die Macht und das Sagen hatten. Jedenfalls hing er immer mit denen rum. Er trug HipHop-Klamotten zur genau richtigen Zeit. Ein Trendsetter: weite Bermudas, lange T-Shirts, das sah echt gut aus an ihm. Er war witzig. Er war smart. Er war – oder er wurde? – zu einem Hofnarr, zu einem, den sie in ihrer Nähe duldeten. Ein Gegenentwurf zu meiner Strategie, mich aus allem rauszuhalten, mich zu isolieren, zu dissoziieren. Sein Weg wäre nicht mein Weg gewesen, aber erst jetzt, viele Jahre später, beginne ich zu verstehen, wieviel Kraft und wieviel Mut ihn das gekostet haben mag. Auf eine gewisse Weise bewundere ich das, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das schrecklich klug von ihm war oder schrecklich dumm oder beides.
Ich würde gerne wissen, was aus ihm geworden ist, und ich würde gerne wissen, warum ich gerade jetzt an ihn denken muss.