Heute mehrere Stunden in einer Online-Schulung gewesen, die als mandatory angekündigt war und qualitativ meine ohnehin schon äußerst geringen Erwartungen zutiefst enttäuscht hat. Mich aufgeregt, mich abgeregt, ein guter Mann (von mir eingestellt!) hat stellvertretend für uns alle seiner Wut Luft gemacht. In weiser Vorrausicht hatte ich mich auf dem Mobiltelefon in die Schulung eingeloggt, Kamera aus, und irgendwann wanderte das Telefon in die Hosentasche, Kopfhörer auf, und allerlei privates erledigt. Die Vorzüge des Home Office.
Erledigungsmäßig komme ich so langsam an den Grund, an den Bodensatz – in meinem Fall: Kontenklärung bei der Rentenversicherung. Ich war nämlich im Herbst 2018 persönlich dort, und nun, kaum zwei Jahre später, suche ich die notwendigen Dokumente für die Nachreichung zusammen.
Einen persönlichen Termin bei der Deutschen Rentenversicherung kann ich nur dringend empfehlen. Es ist ein Abtauchen in eine andere Realität, in Amtsflure und hellgraue Büromöbel, die mit bunten Bildern aus dem kostenlosen Apotheken-Kalender dekoriert sind. Davor die gerahmten Bilder der Familie, für die man das hier alles tut. Das klingt despektierlicher, als ich es meine: alles hat seine Ordnung, sein Formular, seinen Ablauf und seine Uhrzeit. Ich war fasziniert, abgestoßen und neidisch, alles auf einmal. Ich konnte mich fügen, ich konnte mich dem Prozess ergeben, und alles läuft in einer Geschwindigkeit wie eine Miniatureisenbahn für Kinder auf dem Weihnachtsmarkt.
Jedenfalls: der Deutschen Rentenversicherung fehlen Nachweise über meine Studienzeit. Beim Abtauchen in die Ordner ein Bild von mir gefunden, ganz klein, vielleicht für einen Ausweis gedacht. Ich im Laborkittel, die Haare rot, hinter mir die Tür zum Labor, darauf ein paar Warnaufkleber, nicht zu sehen, weggeschnitten, aber ich weiß, dass sie da sind. Ich sehe jung aus, ein offenes Lächeln, hellwach, und doch dunkle Ringe unter meinen Augen.
Meine Promotionsurkunde möchte die Deutsche Rentenversicherung auch, ich halte sie in der Hand und erinnere mich: irgendjemand hatte mir erzählt, dass die Dekanin, zu der ich ein okayes Verhältnis hatte, demnächst drei Wochen in den Urlaub fährt. Ich brauchte die Urkunde aber zeitnah, weiß nicht mehr warum, also bin ich hingegangen und habe sie freundlich danach gefragt. Kein Problem, hat sie gesagt, drucke ich dir schnell aus! Sprachs, legte ein Blatt in den Farbdrucker, und dann kam sie da raus, die Urkunde. Weil die Patrone fast leer war, ein bisschen fad, sollte ich also wirklich bald mal der Rentenversicherung vorlegen, ehe alles verblasst.
Ich habe das neulich in einer Coaching-Session erzählt. Es ging um Übergänge und rites de passage und was fehlt. Ich träume relativ häufig, ich hätte die Doktorarbeit nicht abgeschlossen. Manchmal ist es auch irgendein Mathe-Schein, der fehlt. Aber meistens muss ich noch einmal an die Bench, so wie ich das hier erzähle, fast zehn Jahre ist der Blogeintrag alt. Ich rechtfertige mich, ich erkläre, dass ich doch bereits einen Job habe, ich schäme mich, dass ich vergessen habe, die Promotion zu beenden.
Vor ein paar Wochen hatte ich wieder diesen Traum, aber die Scham war weg. Jemand hat mich erinnert, hier, musst du noch fertig machen, und ich habe recht cool gesagt: ich habe da noch ein paar Daten auf dem Laptop, ich wurstel das irgendwie hin. Kein Ding.
Vielleicht wird er in einer oder zwei Dekaden ganz verschwunden sein, der Traum.
Ich war gerne im Labor. Ich mochte es, dem Protokoll Schritt für Schritt zu folgen, zu wissen, welche Stellen ich abändern kann, und welche nicht, wo ich ganz genau sein kann, und wo es reicht, zu schätzen, wo die Sekunden zählen, und wo es auf die Viertelstunde nicht ankommt. Wo etwas heiß war und kalt wird, stetig fließt oder erhärtet, die Farbe wechselt oder den Aggregatszustand. Aber die Liebe ist irgendwann gestorben, erstarrt und leblos geworden zwischen den zweiundsiebzig Proben, die ich immer wieder und immer wieder und immer wieder und immer wieder und immer wieder und immer wieder und immer wieder und immer wieder pipettiert habe, nachts um zwölf, allein unter Neonlicht und zwischen surrenden Maschinen, während es immer kälter wurde, die Hand bandagiert. Sehnenscheidenentzündung.
Ich darf nicht warten, sagt mein Coach, dass mir jemand einen Stempel gibt, und ein Fleißbienchen schon gar nicht, mich zertifiziert für den nächsten Schritt. Die Erlaubnis kann nur ich mir selbst geben.
Kontakttagebuch: Muttern.
Heftiges Nicken für den letzten Absatz!
Den Moment abpassen und sich ins nächste Level stürzen.
Erkennen wann man im jetzigen alles für sich erreicht hat, ohne alle Bonuspunkte erwischt zu haben.
So schwer und so wichtig.
Ab dem Erkennen, aber absolutes Wollen und sofortiges Umsetzen.