In den Diskussionen mit anderen und in meinen eigenen Überlegungen ist in den letzten Tagen häufiger jene Bemerkung eines Politikers, dessen Namen wir hier nicht erwähnen wollen, aufgepoppt. Das kommende Weihnachtsfest sei „das härteste Weihnachten jemals im Nachkriegsdeutschland.“
Im Gespräch mit meiner Mutter festgestellt, das härteste Weihnachten im Nachkriegsdeutschland sei wahrscheinlich 1945 gewesen, das zweithärteste 1946, das dritthärteste 1947, you get the drift. Meine Mutter meinte, über das Weihnachten 1945 hätte sie nicht so viel gehört, von denen, die dabei waren, aber Weihnachten 1946 und der Winter 1946/1947 muss wohl wirklich schlimm gewesen sein und hat als Hungerwinter sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag.
Meine Großmutter hat diese Zeit wohl noch einigermaßen gut überstanden, da sie vor ihrer Flucht alles Geld abheben konnte und sich und ihre Kinder über den Schwarzmarkt versorgt hat. Schwierig wurde es für sie nach der Währungsreform 1948, es gibt da so Geschichten, dass sie auf unter 50 kg abgemagert in der Morgendämmerung raus aus der Trümmerstadt aufs Land gefahren ist – ich weiß nicht wie? Per Bahn? Fahrrad? – um von den abgeernteten Feldern die Reste aufzuklauben: Ähren, Kartoffeln.
Wir machen uns gerne lustig über das Deutschland der 1950er und ihren Konsumfetisch: Fleisch und Butter und Kleider und kleine, weiß gestrichene Einfamilienhäuser; aber eigentlich verständlich nach einer Dekade von Hunger, Kälte, Angst und Wohnraummangel. Der Dokumentarfilm Kulenkampffs Schuhe hat sehr treffend, traurig und schön von diesem Konsum- und Spaßdeutschland erzählt, in dem sie alle nebeneinander lebten, die Holocaust-Überlebenden, die strammen Deutschen, die Kriegsflüchtlinge und die überzeugten Nazionalsozialisten, ohne jemals darüber zu sprechen, was sie erlebt haben in diesem davor. Vielleicht wird die Dokumentation mal wieder gezeigt, sie war sehr groß.
Der Satz des Politikers lautete übrigens „das härteste Weihnachten für die Nachkriegsgeneration“. Mein schlimmstes Weihnachten war mit ziemlichen Abstand 2014, das einzige, das mein Vater im Pflegeheim verbracht hat. Sechs Wochen später ist er gestorben. Ich habe in diesem Jahr nichts geschrieben, nur das, es war wohl alles kaum auszuhalten. Ich habe ihm zu seinem letzten Weihnachtsfest Socken geschenkt, meine ich, so richtig dicke, warme, sehr gute Qualität. Was am Ende noch bleibt.
Ich schäme mich, dass ich so dankbar bin, in diesen Zeiten keinen Angehörigen und niemand, den ich liebe, im Pflegeheim zu wissen. Vielleicht bin ich daher auch so vorsichtig geworden, wen ich liebe, auch wenn man es sich eigentlich nicht so richtig aussuchen kann. Im Büro ein bisschen geweint wegen diesem Artikel: eine Frau in der Lombardei steht auf dem Dach ihres Autos und blickt in das Fenster des Krankenhauses. Dort liegt ihre Mutter, die an COVID-19 erkrankt ist, und die sie nicht besuchen darf. Sie hofft, dass ihre Mutter einen Blick auf sie erhaschen kann, damit sie weiß: du bist nicht allein.
Meine weiteren schlimmen Weihnachtsfeste sind in ihrer Mittelmäßigkeit auf einem weit abgeschlagenen zweiten Platz: 2009 war nicht so toll, als ich kein Geld hatte und die Weihnachtsgeschenke nicht bezahlen konnte. Die frühen Nullerjahre waren eigentlich alle blöd, weil ich viel zu hohe Erwartungen an das Fest an sich, meine Eltern und vor allem mich selbst hatte, die dann alle abgrundtief enttäuscht wurden, und dass ich heute so ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter habe, hätte ich vor zehn oder zwanzig Jahren auch nie gedacht.
Im Büro heute über die Firmenweihnachtsfeier 2019 gesprochen. Es ist seitdem beruflich bei mir so viel passiert, es fühlt sich an wie aus einem anderen Jahrzehnt, nicht unbedingt schlecht, aber es war ein sehr dichtes Jahr, dieses 2020.
Ich werde 2020 wie in den Vorjahren mit meiner Mutter feiern. Sie wird kochen (wir haben schon besprochen, was es gibt), dann werden wir einen Spaziergang machen, dann Geschenke auspacken. Sie kriegt von mir ein Produkt von der Technikfirma mit dem Obst, das ihren Sauerstoffgehalt kontrollieren und ein EKG anfertigen kann sowie über eine Notfallfunktion verfügt. Ein schnöder Versuch meinerseits, mit Geld ihre Lebensdauer zu verlängern. Den Rest des Heiligen Abends werde ich das Technikgadget dann für sie einrichten. Zwischendurch ein bisschen Videocall und WhatsApp mit meinen Freundinnen.
Es wird gut sein, und wie jedes Jahr werde ich ein bisschen erleichtert sein, wenn es vorbei ist.
Kontakttagebuch: Lunch im Konferenzraum mit einem Kollegen ohne Maske, aber mit Abstand, Besprechung ohne Maske aber mit Abstand, die üblichen Verdächtigen mit Maske, Beratung im Obstgeschäft mit Maske, Termin, Temperaturmessung und Desinfektion, Muttern.
Vielen Dank für diesen – wieder einmal – wundervoll erdenden Eintrag.
Sie brauchen sich mitnichten zu schämen – sie haben es ja schon erlebt.