Ob es auch Menschen gibt, für die der sogenannte Lockdown, also das Herunterfahren des öffentlichen Lebens und die Kontaktbeschränkungen, das beste sind, was ihnen je passiert ist?
Ich denke da zum Beispiel an jemand mit einem Drogenproblem, sagen wir: ein junger Mann, in Ausbildung, aber es gab schon ein paar Konflikte und ernste Verwarnungen, weil er jedes Wochenende feiern geht mit seinen Freunden, die Nacht zum Tag macht, Montags öfter blau oder übermüdet oder neben der Spur. Dass es von den Drogen kommt, weiss im bürgerlichen Leben niemand, ahnt es höchstens. Und jetzt – alle Clubs geschlossen, die sogenannten Freunde treffen sich nicht mehr, die Drogendealer sind nicht erreichbar. Erst findet er es schwer erträglich, rastlos, dann wird es besser, er spürt etwas anderes in sich, an sich, beruflich läuft es jetzt richtig gut, und als die alten Freunde wieder anrufen, da geht er nicht ran. Paar Tage später verliert er das Handy, neue Nummer, und das wars dann.
Oder eine Frau, vielleicht schon Anfang dreißig, bei der es am Monatsende immer knapp war, die jongliert hat zwischen verschiedenen Kreditkarten, auch mal einen Kredit aufgenommen hat, der Dispo eigentlich immer am Anschlag. Es kostet eben alles, die Klamotten, Make-up, Friseurbesuche, Kosmetikerin, die Drinks am Abend und der Wochenendtrip nach Barcelona, vor ein paar Monaten der Trip nach Bali, so schöne Bilder auf Instagram waren das. Es ist ihr halt wichtig, mithalten zu können, aber jetzt gibt es nichts mehr zum mithalten, Unternehmen hat Homeoffice angeordnet bis auf weiteres, für wen soll man da noch schöne Kleider tragen, reisen geht ja schon lange nicht mehr. Und plötzlich ist wieder Geld auf dem Konto, der Kredit fast abbezahlt, schwarze Zahlen, und kein nagendes Gefühl mehr oder eine Nervosität, wenn die Kassiererin die Karte durchzieht, und keine Sorgen mehr am Monatsende. Schön, eigentlich, denkt sie sich.
Oder jemand in Kurzarbeit, Touristikbranche. Kurzarbeit! Erstmal Herzklopfen, Kloß im Hals, aber der Mensch gewöhnt sich an alles. Die Zahlen auf dem Gehaltszettel sind irgendwie anders, aber unterm Strich fast wie vorher. Die ersten drei Wochen fühlen sich noch wie ein langer Urlaub an. Dann die ersten Gedanken: eigentlich wollten sie ja schon länger raus aus der Branche. Vielleicht nochmal was anderes lernen, programmieren zum Beispiel, oder etwas mit einem Zertifikat. Gibt dem Alltag ja auch Struktur. Draußen wird es Sommer, dann Herbst, die ersten aus der Weiterbildung finden einen neuen Job, und auf einmal kommt auch für sie ein Angebot. Einfach so. Nichtmal gesucht. Ein neuer Name und eine neue Zahl auf dem Gehaltszettel, und der Stolz nicht zu ermessen.
Oder ein Typ, Millenial, der plötzlich viral geht auf TikTok. Zwei komma vier Millionen Aufrufe. Das ganze Nachrichtenfach voll. Bei einer bleibt er irgendwie hängen, sie albern rum und schicken sich gegenseitig lustige TikToks, dann Snapchat, dann geht er live und sie unterhalten sich, die ganze Nacht, schreiben, reden, sprechen, und es ist ernst und witzig und wahrhaftig. Nach ein paar Wochen treffen sie sich, an einem Ort genau in der Mitte, oder zumindest fast, beide kommen mit der Bahn, Schmetterlinge im Bauch, treffen sich am Bahnsteig und machen einen Spaziergang. Kommen sich nah, tun Dinge, für die man die Maske abnehmen muss, irgendwann liegt sie neben ihm und schläft und er denkt, dass er noch nie so glücklich war. Und wenn ihr Name auf seinem Display aufleuchtet, dann leuchtet auch etwas in ihm auf, hell und kräftig.
Eine gute Frage, denke ich, ob es die äußeren Umstände sind, die uns verändern, oder ob es immer und ausschließlich von innen kommt. Vielleicht ein bisschen wie ein Samen, tief drin in uns, der aufgeht, wenn die Zeit richtig ist. Und die Zeit ist für jeden von uns eine andere.
Wow vielen Dank, das ist ein ermutigendes Gedankenspiel. Bestimmt gibt es auch solche Geschichten.
Ich kenne tatsächlich einige Leute, für die das letzte Jahr vielleicht nicht die ganz große und positive Lebensveränderung gebracht hat, aber doch etwas, was ohne die ganzen Maßnahmen nie so gekommen wäre und eigentlich gut ist. Insofern: wunderbare Geschichten und ganz sicher gibt es solche oder ähnliche in Wirklichkeit.
Ein schöner, anderer Blick, danke dafür! Es ist nicht alles für alle schlecht…
Für mich war,bzw. ist dieser Lockdown etwas wundervolles.
In der Arbeit wurden zwei Teams gebildet,um im Falle einer Infektion nicht den gesamten Bereich lahmzulegen, und so kam ich zu unerwartet viel Freizeit.
Meine Gesundheit -physisch und psychisch- hatte sich in den letzten Jahren immer weiter verschlechtert,Autoimmunerkrankungen,Essstörung,etc.
Jetzt konnte ich ohne schlechtes Gewissen einfach mal zum Arzt,dann ins Krankenhaus,schliesslich noch eine Therapie beginnen. Morgens um vier,wenn der Wecker klingelte, kamen mir tausend Dinge in den Sinn die man „ja eigentlich mal machen sollte“,aber ich hatte nachmittags nach der Arbeit nur noch Kraft für das Nötigste.
Ohne Lockdown hätte ich nicht die Kraft gehabt,mich einer Therapie zu stellen und gleichzeitig meinen Körper wieder „in Ordnung“ zu bringen.