Barrowlands

The Cure brachten im November ein neues Album heraus, und ich holte einen großen, hellblauen Koffer aus einer versteckten Ecke meiner Abstellkammer. Der Koffer war aus Stoff, es fehlte ihm ein Rad. Ich war mit diesem Koffer als junge Frau ein paar Mal nach Großbritannien gereist, und wahrscheinlich auch noch anderswo hin, ich weiß noch, dass ich ihn als reduziertes Schnäppchen günstig erstanden hatte und er so hässlich war, dass ich ihn schon wieder beinahe schön fand.

Seit vielen Jahren hatte ich ihn nicht mehr geöffnet. Jetzt aber war Kassandra zu Besuch, und ich wollte ihr den Inhalt des Koffers zeigen. Wir legten ihn auf den Teppich meines Wohnzimmers, öffneten den Reißverschluss und trugen beinahe archäologisch Schicht für Schicht ab: viele Poster aus der Bravo und aus anderen Musikzeitschriften. Ein von einer Plakatwand abgelöstes Tourposter, wellig vom Kleister. Konzertfotos, überbelichtet, auf denen sich in der Ferne vielleicht Robert Smith erahnen ließe. Konzertkarten, viele. Ein Autogramm, gerahmt.

Und Videokassetten. Gekaufte und welche, die ich auf dem Camden Market erstanden hatte, Bootlegs also, teuer waren die, das weiß ich noch. Und eine ganze Reihe von Tapes, manche mit rätselhafter Beschriftung, von mir selbst aus dem Fernsehen aufgenommen.

Das man das damals gemacht hat. Fernsehsendungen mit dem Videorecorder aufgezeichnet.

Sofort ist bei mir alles wieder da: die Haptik, das Geräusch der Kassette, wie sie vom Rekorder eingezogen wird. Das richtige Drücken der Knöpfe zur richtigen Zeit, das intensive Studieren von Programmzeitschriften (überhaupt: Programmzeitschriften!). Der erste Videorekorder, der programmierbar war, die Stunden des Nachtprogramms von MTV, die ich damit aufgezeichnet habe, und in denen die wirklich coolen Dinge liefen. Die Entscheidung, welche Kassetten wann und wo wieder überspielt werden musste, weil leere Videokassetten teuer und das Taschengeld knapp war.

Kassandra und ich halten die Videokassetten in den Händen, und das ist dann auch schon so gut wie alles, was wir damit tun können, denn: ich habe keinen Videorekorder mehr. Erst ein paar Wochen später gelingt es mir, einen zu organisieren, und mich daran zu erinnern, wie man so ein Teil anschließt. SCART-Kabel und so.

Ich lege eine Kassette ein, Barrowlands steht darauf in meiner Handschrift, die mir fremd vorkommt. Das Bild, das erscheint, ist krümelig und vor allem im Format 4:3. Ungewohnt. Der Ton ist schlecht. Ich hatte vermutet, Barrowlands könnte ein Film sein, ein Fantasy-Film vielleicht, so wie Willow oder Legende. Es erscheint aber The Cure, und zwar in ihrer ungewöhnlichsten Bandzusammenstellung: Andy Anderson am Schlagzeug, Porl Thompson an der Gitarre, Phil Thornalley am Bass, und Lol Tolhurst am Keyboard. Und Robert Smith natürlich, der ist ja immer dabei.

Sie spielen laut und schnell, es ist viel Punk im Post-Punk. Robert schwitzt und seine Haare verspotten die Schwerkraft. Bei einem Song bauen sie ein zweites Schlagzeug auf, für Lol, der früher Schlagzeug gespielt hat. Es ist ein Fiebertraum.

Ich rechne nach. 24 war Robert damals, vielleicht 25. Er hatte schon sechs Studioalben veröffentlicht, vielleicht auch sieben, je nach dem wie man sie zählt. Die Band war einmal auseinandergebrochen und wieder zusammengefügt worden, er war zwischendurch bei einer anderen Band, nämlich den Banshees, und Simon würde bald wiederkommen. (Ich selbst war mit 24 oder 25 ziemlich ziellos, studierte irgendwas rum, war in Berlin, und fiel ständig durch Organische Chemie durch. Es wurde dann aber zum Glück doch alles irgendwann gut.)

Was mich aber, seitdem ich diesen hellblauen Koffer geöffnet habe, nicht mehr loslässt, das ist das Nachdenken über die Brüchigkeit der Medien: das Papier, das mir unter den Fingern zerbröselt. Die Speichermedien, für die es keine Abspielgeräte mehr gibt. Dateiformate, die nicht mehr erkannt werden. Die Kassetten entmagnetisieren sich, verlieren Ton- und Bildqualität, und alles verschwimmt in weißem Rauschen.

Wir können retten, restaurieren, kopieren, überspielen. Eigentlich ist das Problem aber gerade jetzt noch viel größer als früher. Denn bei Spotify, Prime oder Youtube besitzen wir gar nichts mehr, wir leihen nur, und alles kann mit einem Klick durch eine willkürliche Entscheidung verschwinden.

Als ich jung war, wurde uns eingeflößt: das Internet ist für immer. Eine Weile stimmte das sogar, und mit zwei oder drei Stichwörtern tauchten die seltsamsten Forenbeiträge auf, die ich selbst geschrieben und schon lange vergessen hatte. Jetzt hat das Internet gelernt zu vergessen, denn es wird nicht mehr durch die großen Suchmaschinen indiziert. Mit AI geht die Welt noch einen Schritt weiter, denn wir werden durch sie verlernen, selbst zu googeln.

Das letzte Kapitel eines meiner liebsten Bücher, The Bone Clocks, spielt in 2043. Das Internet gibt es nach einer globalen Krise nicht mehr, sondern nur noch The Thread: ein Faden statt eines Netzes, und gelegentlich erwischt man einen Teil dieses Fadens und kann eine Nachricht austauschen. Die Hauptfigur Holly bereut vor allem, dass alle Fotos aus der Cloud verschwunden sind. Übriggeblieben ist nur ein einziger schlechter Papierausdruck eines Fotos ihrer Tochter, die sie tausendfach fotografiert hatte.

Das alles macht mich melancholisch, ein bisschen traurig auch. Bedrückend, politisch gesehen. Aber irgendetwas daran fühlt sich auch leicht an. Dass von uns nichts bleibt. Staub. Vielleicht ein Polaroid. Schnipsel eines Songs. Ein kurzes Video. Eine zufällig konservierte Musikkassette, beschriftet mit: Fragmente’s Mix. Erinnerungen, Bilder im Kopf, ungenau, zufällig. Vergänglich.

(Barrowlands – eigentlich „The Barrowland Ballroom, Glasgow“ – ist übrigens aktuell noch auf YouTube.)

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