Wurzeln (1)

Wir nennen es “das Hungerloch”. Der Hang, den der Bach geschaffen hat, ist an dieser Stelle besonders steil und vermutlich nach Norden ausgerichtet, jedenfalls fällt kaum Sonne auf die Streuobstwiesen.
Als ich 6 war oder 8 oder 12, hat mir mein Vater auf meine Frage erklärt, der Name käme daher, weil früher die Leute von diesen Wiesen kaum haben leben können, immer Hunger hatten. Heute erzählt mir Google, das „Hunger“ in Ortsnamen für „unwirtlich, unfruchtbar“ steht. Beide Erklärungen führen zur gleichen Erkenntnis: es ist ein schlechter Ort, und ein ganz besonders schlechter Ort für ein Wochenendhäuschen, aber ausgerechnet hier steht eines. Dann hat dort auch noch vor Jahren jemand Tannen gepflanzt, die jetzt meterhoch wuchern und dunklen Schatten werfen. Mein Vater schiebt munter das rotweiße Absperrband zur Seite, ich erwarte, daß „Polizei“ aufgedruckt ist, aber es trägt nur den Namen einer Baufirma. In Schwaben ist man eben sparsam, wahrscheinlich braucht man auch nur selten so ein Absperrband. Am Gartentörchen ist ein Zettel in DinA4 in einer Klasichthülle mit einer Paketschnur befestigt: „Betreten der Brandstelle verboten – Gemeinde xxxdorf“. Vom Gartenhäuschen stehen nur noch verkohlte Reste. Auf den mit Grünspan überzogenen Steinplatten liegt eine vertrocknete Rose neben zwei verbrauchten Grablichtern. Als wir Grufites waren, fanden wir diese Grablichter sehr cool, in keiner der einschlägigen Kneipen und Clubs durften sie als Tischbeleuchtung fehlen. Neben der vertrockneten Rose steht ein vom Feuer deformierter Bierkasten, die Flaschen zerborsten. Ich stelle mir die Flammen vor, die enorme Hitze, die das Bier zum Kochen bringt, bis das Glas bricht.
In meiner Erinnerung stand das Häuschen so gut wie immer leer. Man sieht es der Wiese an, daß hier lange nicht gemäht wurde, den Bäumen, daß sie lange nicht ausgeschnitten wurden. Aber ein kleines Beet hat er kürzlich freigemacht. Der Mann hat das Grundstück vor ein paar Wochen gekauft, erzählt mein Vater. Am Wochenende war ein Fest in der Sporthalle, ich denke an Biertische und eine jener unsäglichen Coverbands. Endlich können sowohl der Mann als auch seine Freundin so viel trinken, wie sie mögen, sie haben ja jetzt das Wochenendhäuschen, müssen nicht mehr mit dem Auto über die Landstraße kurven. Sie bleiben bis zum Ende des Festes, übernachten im Wochenendhäuschen, es ist kalt, es ist erst März. Der Mann zündet einen Gasofen an, es kommt zur Explosion. Die Freundin kann sich retten, der Mann verbrennt. Die freiwillige Feuerwehr xxxdorf bleibt im Feldweg stecken. Als ich drei war, brannte der Bauernhof neben unserem Haus nieder. Gewitter, Blitzschlag, Hochsommer. Der Bach, der das Tal gemacht hat, führte kaum Wasser; die Freiwillige Feuerwehr xxxdorf mußte erst ins Nachbardorf fahren, um Löschwasser tanken zu können.
Mein Vater und ich verlassen das Grundstück, kehren wieder auf den Weg zurück, gehen weiter. Für einen Moment werden all die Male, die ich diesen Feldweg gegangen bin, sichtbar, überlagern sich – als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene, mein Vater in seinen Vierzigern, Fünfzigern, Sechzigern. Siebzig, jetzt, heute. Da ist keine Rührseligkeit von wegen „und irgendwann ist er dann nicht mehr da“. Wir gehen einfach den Weg.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert