Ehrfurcht.

Regionalzug, Provinz, abends. Zwei Herren um die Fünfzig setzten sich zu mir ins Abteil („ist hier noch frei?“, „aber sicher!“). Beide tragen Flanellhemden, derbe Schuhe, Allwetterjacken – Wanderer vielleicht. Es riecht nach Schweiß. Den ersten Versuch nach Smalltalk würge ich ab („was für ein modernder Zug! Sonst fährt hier immer ein ganz alter.“ „Aha.“), lese meine Zeitung, setzte dann Kopfhörer auf. Der Jüngere der beiden ist ein wenig schrullig. Er bewegt sich ruckartig, starrt auf die blinkende Anzeige des Discmans, bohrt in der Nase und dann isst er auch noch den Popel. Ich fühle mich unwohl, blicke aus dem Fenster, draußen ist es dunkel und ich sehe nur die Reflektion des Mannes in der Scheibe. Er sieht nicht, daß ich ihn sehe, wippt hin und her, liest nichts, schläft nicht, tut nicht, was normale Reisende so tun. Nach einer halben Stunde begreife ich endlich: der Mann ist geistig behindert. Sofort kann ich mich entspannen und bin auf einmal ganz fröhlich. In einer Vietelstunde werde ich aussteigen, also nehme ich die Kopfhörer ab und fange doch noch eine Unterhaltung an („Sie fahren auch nach xxxdorf?“). Ich erfahre, woher die beiden kommen, was sie heute unternommen haben, und erzähle ein wenig von meinem Beruf. Der Ältere las ein christlich angehauchtes Magazin und ich punkte bei ihm mit einem Bibelzitat („es gibt kein Glück, es sei denn, der Mensch findet Freude an seinem Tun“). „Ich arbeite im Wald“, sagt der Mann, den ich für seltsam hielt, und der andere sagt: „ja, wir sorgen dafür, daß die Bäume gerade wachsen, damit man daraus Balken und Bretter machen kann.“
Wir kommen an, und ich verlasse die beiden mit einem seltsamen Gefühl. Könnte sowas wie Ehrfurcht sein.

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