Amalia & ich

Ich wache auf, das Gewitter von gestern hat sich verzogen und der Morgen ist sehr sonnig. Ich stehe auf und gehe zum Balkon, halbnackt, und öffne die Balkontür. Sie ist noch da: Amalia, und blinzelt mich total überrascht und leicht verschlafen an, als wäre sie überrascht, daß ich noch da bin. Ich dachte immer, Vögel wachen vor Sonnenaufgang auf und nicht erst gegen acht…
Ich mache mir einen Kaffee, und als ich wieder auf dem Balkon schaue, ist Amalia gerade dabei, enthusiastisch in den Haferflocken zu picken, die ich ihr hingestellt habe, sie trinkt auch. Der Balkon ist vollgekackt, Amalia sieht trocken aus und gesund, soweit ich das beurteilen kann. Ich ziehe mir was an, auch eine Strickjacke, damit sie mich nicht kratzen kann, und versuche dann, sie anzufassen. Sie ist ein keusches Mädchen. Ich suche nach einem Ring, aber mein Gott – sie hat so viele Federn an den Füßen… Wer züchtet eigentlich Tauben mit Federn an den Füßen…sieht blöd aus und besser fliegen können sie dadurch sicher auch nicht.
Ich gebe die Suche auf, nachher fällt Amalia noch vom Balkon, und das mit der Flugtüchtigkeit wollen wir nicht austesten. Also dusche ich und verlasse das Haus. Im ersten Stock höre ich eine Nachbarin telefonieren, ich fasse mir ein Herz und erzähle ihr von der Taube. Ob sie jemand kennt, der Tauben züchtet? Auf der anderen Seite der Gleise, sagt sie, in der Schrebergartenkolonie.
Ich bedanke mich und fahre mit dem Auto vorbei, frage einen Herrn durch die Hecke nach den Tauben und werde dorthin verwiesen, wohin ich schon befürchtet hatte. Ein Schrebergarten ist es nicht, eher eine Art von heruntergekommenem Abstellplatz mit Tieren. Ein kleiner Hühnerverschlag, ein winziger Hasenkäfig, und Tauben, die ich eher höre als sehe. Mauerreste, dahinter Ali Abdul Gebrauchtwagenmarkt. Der Besitzer scheint nicht da zu sein. Ich möchte ungern mit ihm in Kontakt kommen, irgendwie habe ich ein ungutes Bauchgefühl. Amalia aber soll wieder zurück zu ihrem Schwarm, das ist klar.
Ich gehe erstmal arbeiten. Vielleicht hat sie bis heute abend den Weg nach Hause gefunden – es sind nur fünfzig Meter Luftlinie. Wenn nicht, bringe ich sie hin.

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