ein Tag im September

Das Wetter war sehr viel besser als heute, ein letzter, sich aufbäumender Sommertag. Ich hatte abends plötzlich Lust, nochmal mit dem Hund rauszugehen, vielleicht, weil es irgendwo frühe Äpfel oder späte Himbeeren gab, vielleicht, weil nichts im Fernsehen kam, wahrscheinlich aber, weil der Abend so schön war. Ich war fünfzehn oder sechzehn und brauchte schon lange keine Leine mehr für meine Schäferhündin. Wir waren eine Einheit, sie hörte auf eine Geste, ein Flüstern, einen Gedanken. Meine Eltern hatten ein Haus in der schwäbischen Prärie, ohne direkte Nachbarn. Die Straße ging gerade bis zu unserem Haus und wurde dann zum Schotterweg, dahinter Streuobstwiesen, Weiden, Felder, Wald – die Landschaft meiner Kindheit. Auf meinen Spaziergängen begegnete ich Kühen, Schafe, Traktoren in der Ferne und hin und wieder fleißigen Schwaben, die ihre Obstbäume pflegten.
An diesem Abend hatte ich mich ein wenig verschätzt. Die Dämmerung kommt im September früh, und gegen neun war die Sonne schon untergegangen, färbte den Himmel in Rosa- und Orangetönen und in diesem samtigen Dunkelblau.
Wir waren schon fast wieder zuhause, da passierte plötzlich etwas: mein Hund fing an zu knurren, ein rumpelnder, dunkler, böser Laut aus der Tiefe ihres Rumpfes. Sie ging ein wenig in die Knie, zum Sprung bereit. Das Fell an ihrem Rücken stellte sich hoch. Und aus der Dämmerung löste sich ein Mann, nondeskript, zwischen dreißig und vierzig, zirka 180 cm, schlank, braune Haare. Mit zwei Schritten war ich bei meinem Hund, meine Hand am Halsband. Es muß ein interessantes Bild gewesen sein: ein junges Mädchen mit einem angriffsbereiten, zähnefletschenden Schäferhund an ihrer Seite. Der Mann murmelte ein paar Worte, es klang entschuldigend, verlegen, verdruckst, und machte sich aus dem Staub.

Bis heute, ein halbes Leben später, rätsele ich, was es damit auf sich hatte, und bin verblüfft wegen des ungewöhnlichen Verhaltens meines Hundes. Sicher, sie war ein wachsamer Schäferhund, doch wenn wir sonst jemanden begegneten, blieb sie einfach stehen und guckte mich an, wartete auf Befehle vom Alphatier. Was war es, daß sie an diesem Abend zu einer solchen Reaktion, die auf einer Skala von 1 bis 10 einer glatten 10 entsprach, veranlaßt hatte?
Möglich, daß dieser Mann ein harmloser Spaziergänger war, auch wenn aufrechte Schwaben nie spazieren gehen, sondern immer nur schaffen, abgesehen von dem Sonntagvormittagsspaziergang mit Kind und Kegel, bevor es Zwiebelbraten gibt. Wer war er? Spanner, Vergewaltiger, Entführer?
Es wird ein Rätsel bleiben, und ich kann froh sein, keine Antwort gefunden zu haben. Mein Hund ist schon viele Jahre tot. Das ist sehr traurig, denn ich würde gerne meine Arme um sie legen und sie auf ihre nasse Nase küssen.

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