one, two, three, four!

In Stansted brach mir beim Verlassen des Flugzeuges der Absatz meines Schuhs ab. Den Ziplock-Beutel mit den Flüssigkeiten inklusive meiner Kontaktlinsen hatte ich bereits an der Security in Deutschland verloren. Kleinigkeiten. Ich flickte den Absatz mit Kaugummi, was bis zur Liverpool Street Station hielt. Dort holte mich Ruth ab.
„Ich habe Zahnweh“, sagte sie.

Und so gehen wir am nächsten Tag zum Zahnarzt, nachdem sie mir schwesterlich ein Paar Schuhe von sich geliehen hat und wir Kontaktlinsen organisiert haben. Während oben der Bohrer brummt, mache ich small talk mit der Sprechstundenhilfe. Ich erzähle ihr, daß wir ein wenig in Eile sind: es ist sechs Uhr, um acht stehen The Cure auf der Bühne.
„The Cure? I’ve never heard of them…“, sagt die Sprechstundenhilfe, und ich bin um Worte verlegen. Wo anfangen, zu erklären, was das ist, The Cure, und was sie machen?
„They play kind of rock“, rette ich mich schließlich. Dann düsen wir los.
Von der Tube Station führt ein sehr breiter Fußgängerweg zur festlich erleuchteten Wembley Arena; die Menschen strömen wie ein breiter Fluß in Südamerika. (Wir sind nicht die letzten). Alles Curefans, auch wenn fast niemand so aussieht. (Wir werden alle älter, das ist auch gut so). Kaum sind wir drin, heißt es schon: ladies and gentleman, please proceed to your seats, The Cure will be on stage in five minutes. (Vorbei die Zeiten, als wir Stunden bevor die Türen öffneten an der Konzerthalle waren.) Ruth eilt die Stufen hinunter in den Stehbereich, ich folge ihr, Tunnelblick. Als ich wieder hochschaue, stehen wir nur ein paar Meter von der Bühne entfernt, linken Rand, Porls Seite. Kein Gedränge, Engländer eben. Später wird mir auffallen, was mir noch überhaupt nicht gefehlt hat: Zigarrettenrauch. Es ist Rauchverbot. Dann weiß ich gar nicht, wie mir geschieht: gerade eben waren wir noch beim Zahnarzt, jetzt wirds schon dunkel, und dann sind sie da. Ich habe einen ausgezeichneten Blick auf Robert Smith, und Robert Smith hat uns alle immer noch in der Hand. Charisma, denke ich. Bei den ersten Songs ist es noch nicht so offensichtlich, die Menschen um mich bleiben englisch reserviert. „Was hat er uns denn zu bieten, der alte Knacker?“ scheinen sie zu fragen. Eine ganze Menge. Er scheint entschlossen zu sein, die Zahl der gespielten Songs seinem zunehmenden Alter anzugleichen (gespielte Songs: 41, Robert Smith: 48). Der Rausschmiß des Keyboarders, den ich persönlich nicht begrüße, hat zugegebenerweise zu einer längst fälligen Erneuerung des Soundes geführt. The Cure klingen klarer, dynamischer, sie improvisieren mehr. Der neue (alte) Gitarrist Porl Thompson gilt als großes musikalisches Talent. Manchmal spielt er mir fast ein wenig zu elaboriert. Dennoch entlastet er Robert Smith deutlich: der wirkt entspannt und gut gelaunt und läuft zu Hochform auf. Alkoholprobleme, so mein Eindruck, hat der gute Mann definitiv keine: wer dreieinhalb Stunden so unangestrengt präzise spielt, der kann nicht betrunken sein.
Ich war besonders beeindruckt von „to wish impossible things“, ein leiser Song, der leider etwas unterging. Zahlreiche Perlen von Disintegration haben mein Herz erfreut. Einige neue Songs („the only one“, „the boy I never knew“, „freak show“) wecken Vorfreude auf das wohl im Juni erscheinende neue Album.
Gegen Ende rocken The Cure dann richtig, es kommt ein Klassiker nach dem anderen. Von Robert Smith scheinen unsichtbare Fäden auszugehen, an deren Enden wir gerne willenlos tanzen. Mit den kleinsten Bewegungen zieht er daran und wir können gar nicht anders, als ihm zu Füßen zu liegen. Völlig überrascht sind alle, als The Cure „Lovecats“ spielen. Er spielt es mit so viel Humor, so viel Selbstironie, daß ich ganz atemlos bin. Ganz sicher ist Robert Smith nicht frei von Fehlern. Aber er ist groß, ganz groß.
Obwohl fast zwanzig Jahre älter, ist er auch um einiges fitter als ich. Beim dritten Zugabeblock schwächel ich ein wenig: ich habe ziemliche Schmerzen, zudem in geliehenen Schuhen, aber The Cure spielen so großartig… ich bete, daß sie aufhören, daß dies der letzte Song ist, und gleichzeitig, daß sie nie aufhören. Es ist so wundervoll. Und Robert Smith sagt: one, two, three, four!
Als es dann doch zuende ist, geht Robert Smith am Bühnenrand entlang und verbeugt sich lange und oft. „Danke“, scheint er zu sagen, „daß wir euch unterhalten durften.“ Es ist die Bescheidenheit eines Mannes, der schon seit Jahrzehnten niemandem mehr etwas beweisen muß.

Das war jetzt also mein achtzehntes Konzert. Ich bin sehr froh, daß ich sie gesehen, gehört, erlebt habe. Es war eine kluge Entscheidung, dies in Wembley zu tun (Wembley selbst hat ein wenig den Charme einer Mehrzweckhalle, muß ich sagen). The Cure waren in Topform: es war das letzte Konzert ihrer kleinen Europatournee. Außerdem hat sich Robert des öfteren mal an den linken Bühnenrand orientiert: dort vermute ich seine Frau, Freunde und Familienmitglieder.
Diese achtzehn Konzerte, sie verschwimmen in der Erinnerung ein wenig ineinander. Was möchte ich von diesem behalten?
In der standing area gibt es immer ein wenig Bewegung, sehr langsam zwar, aber man driftet auseinander oder zueinander hin, und nach einer Stunde oder zwei steht man woanders als am Anfang. So stand ich zunächst neben Ruth, dann vor ihr, dann von ihr entfernt, schließlich sie ein Stück vor mir. Plötzlich dreht sie sich um und fragt mich zwischen zwei Songs, ob ich nicht wieder vor sie möchte (ich bin etwas kleiner als sie.) Ich verneine, ich will nicht drängeln. Da streckt sie die Hand aus, packt mich am Handgelenk, zieht mich zu sich und schiebt mich vor sich. Ich sehe perfekt.
Dieses Gefühl, wie sie mich zu sich zieht, und was darin liegt: ihre Art, beinahe grob und doch so liebevoll für mich zu sorgen – das will ich mir behalten.

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