Kummer & Glück

Versehentlich in der Mittagspause vor der Kollegin geweint. Sie ist mehr als eine Kollegin, fast schon eine Freundin, und all meine Freunde haben diese mich immer wieder verwundernde Gabe, mit einem Blick beurteilen zu können, wie es mir geht. Vor ein paar Jahren sagte mal einer zu mir: „du warst während des Meetings total sauer, ich habe das an deinem neutralen Gesichtsausdruck erkannt.“
Vielleicht aber bin ich einfach wie klares, kaltes Wasser, man sieht mit einem Blick bis auf den Grund. Sie jedenfalls fragt besorgt, was denn los sei, und kurz zucke ich und erwäge, zu lügen, alles okay, ist nur so kalt draußen, der Wind treibt einem die Tränen in die Augen, aber ich werde immer weich, wenn andere so warmherzig und aufmerksam zu mir sind. Und ich erzähle, skizziere ihr die Situation in drei oder vier Sätzen, von denen ein oder zwei mir die Luft abschnüren. Es ist kein richtiges heulen, kein Hoover-Damm, der bricht, eher eine Wischerei ums Auge herum, die Nase rot und die Stimme verheult, ein schwerer Seufzer, dann streichelt sie mir den Oberarm, das mag ich immer gerne, das tröstet.

Hinterher ist es mir ein bisschen peinlich, und ich frage mich: war es richtig, mich so gehen zu lassen? Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal vor jemanden geheult habe. Es ist ewig her. Als der Hund gestorben ist, sicherlich, und vor dem Coach einmal, aber das war geplant, dafür habe ich bezahlt, auf die beste aller Arten, nämlich mit Geld. Jetzt habe ich mich exponiert und frage mich: kommt da noch eine Rechnung?

Es kommt: eine Offenbarung. Ein paar Tage später gehen die Kollegin und ich abends essen, und sie öffnet sich mir. Einen Teil dachte ich mir schon, anderes überrascht mich ziemlich. Mich ehrt ihr Vertrauen, und wir beide rücken innerlich spürbar zueinander hin.
Man vergisst schnell, daß man die Schutzschilde herunternehmen muss, um Nähe zuzulassen, und von sich erzählen, um verstanden zu werden.

***

Wieviele Menschen sind wirklich glücklich, oder auch nur halbwegs glücklich, oder wenigstens zufrieden? Mit wem würde ich tauschen wollen, wen beneide ich mit dieser Art von Neid, die die höchste Form der Anerkennung ist? Die Menschen erscheinen einem glücklicher, je weniger gut man sie kennt.

Und ich? Bin ich glücklich?
Aber ja. In Momenten. In Fragmenten. Egal, was ist, ein Gefühl kommt seltsamerweise immer wieder zu mir zurück:
das Leben als ein vollreifer, sommerwarmer Pfirsich, in den ich hineinbeißen möchte, der Saft läuft mir am Kinn herab. Und meine Bitterkeit ist nichts, daß mir alles vergällt, sondern wie ein feines, exotisches Gewürz, ein zarter Geschmack, der allem eine Tiefe verleiht.

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