Zweihundert Kilometer

„Ich kann deinen Vater nicht erreichen“, sagt meine Mutter am Telefon. Es ist Montagabend, der erste Tag ihrer Reise. Ich habe Donnerstag und Freitag frei, werde am Mittwochabend zu meinem Vater fahren, so dass er nur drei Tage allein ist. Das schafft er. Eigentlich. Und jetzt geht er nicht ans Telefon.
Mit der Leitung im unteren Stockwerk stimmt etwas nicht, es klingelt fünf Mal, aber dann kommt ein seltsamer Ton statt des Anrufbeantwortes. Vielleicht hat er das Mobilteil verlegt, oder es mal wieder nicht aufgeladen. Also rufe ich auf der Leitung im oberen Stockwerk an. Nebenbei läuft eine halbe Folge „Danni Lowinski“, während ich das Telefon immer wieder klingeln lasse, ein menschlicher Wählautomat. Selbst wenn er gerade fernsieht, den Ton laut hat, irgendwann muss er das doch mal hören? Er hört es nicht.

Meine Mutter ruft wieder an, und wir beraten uns. Blöd, dass mein Vater vor zwei Wochen sein Handy verloren hat. Wir wollten am Ende der Woche gemeinsam ein neues aussuchen, drei Tage ohne Handy, das geht, da war ich mir sicher. Noch blöder, dass die Nachbarn nebenan ihren Sohn in München besuchen, ausgerechnet jetzt, mein Vater füttert ihre Katzen. Hoffentlich. Die Nachbarin gegenüber ist schon neunzig, hat ein Hörgerät und Angst vor den Russen. Die Lehrerfamilie die Straße runter.. auch verreist, sind ja Faschingsferien. Meine Mutter denkt nach, und erinnert sich dann an eine Frau König, keine direkte Nachbarin mehr, aber immerhin in Laufweite. Ich google ihre Telefonnummer, rufe an, es geht der Anrufbeantworter dran und nennt eine Mobilnummer, unter der ich auch niemanden erreiche.
„Dann fahre ich eben selbst hin!“, sagt meine Mutter und klingt so klein, so traurig und besorgt. „Wenn irgendjemand fährt, dann fahre ich!“, sage ich. Meine Mutter braucht diese Reise, und ich brauche, dass sie diese Reise kriegt, sie nicht abbrechen muss, um ihren Mann zu betreuen. Wir streiten uns dann aber doch noch ein bisschen, ich bin dagegen, dass sie so spät abends noch so weit Auto fährt, sie ist dagegen, dass ich so spät abends noch so weit Auto fahre, um dann am nächsten Morgen vor der Arbeit die selbe Strecke wieder zurückzufahren. Während wir streiten, reiße ich die nächstbeste Tasche von Haken, stopfe eine Hose von glücklicherweise noch nicht aufgeräumten Wäscheständer, Unterwäsche dazu und ein Top, der Waschbeutel ist auch noch gefüllt. „Ich fahre jetzt“ sage ich, und dann fahre ich.

Das Auto liegt gut auf der Straße, die weißen Markierungen rauschen an mir vorbei, tschik tschik tschik, ich fahre so schnell ich kann, ohne unvernünftig zu sein. Ich denke an meinen Vater. Ich sehe ihn in einer Blutlache am Fuße der Treppe. Ich sehe ihn zusammengebrochen im Bad. Ich sehe ihn eingenickt im Fernsehsessel. Ich sehe ihn im Bett liegen, tot. Ich sehe ihn gar nicht, ich kann ihn nicht finden, er hat sich verirrt. Er hat sich eingeschlossen im Haus der Nachbarn, deren Katzen er füttern wollte. Er ist dort ausgerutscht. Er ist irgendwo anders ausgerutscht. Er ist überfallen worden.

Und dann sind zweihundert Kilometer vorbei, ich biege in die Einfahrt, sprinte die Stufen hoch, keine Jacke an. Ich klingele, schließe die Haustür auf, rufe nach ihm. Gehe in sein Schlafzimmer. Er liegt im Bett wie ein Pharao, die Hände auf dem Bauch gefaltet, blinzelt mich an und sagt: da bist du ja schon!

Ich fühle mich deppert, und ich bin froh. Das Telefon ist tot, das Kabel aus der Buchse gerissen. Wir rufen über mein Mobiltelefon meine Mutter an. Ich umarme meinen Vater. Irgendwann gehe ich ins Bett, es dauert, bis ich zur Ruhe kommen kann. Nach ein paar Stunden stehe ich auf und fahre zurück. Die rauhbereiften Weinberge und Streuobstwiesen sind erst in rosa Dämmerlicht getaucht, dann geht die Sonne in meinem Rückspiegel auf, eine kleine, helle Orange.
Auf der Arbeit bin ich seltsam heiter, und sehe aus wie aus dem Ei gepellt.

***

Zwei Tage später, nochmals zweihundert Kilometer, planmäßig diesmal. Wir kaufen ein, ich koche, der Tag schmilzt so vor sich hin. Am Nachmittag hält mein Vater ein Nickerchen, auf seinem Bett liegend, und ich lege mich einen Moment neben ihn. Wir schauen aus dem Fenster, die Gardinen müssten mal gewaschen werden, und reden so über dies und das. Im Stillen überlege ich, was wir unbedingt noch machen, gemeinsam unternehmen sollten, solange es noch geht. Ich überlege hin und her, und plötzlich wird mir klar: es geht nicht ums machen. Es geht ums sein.

***

Mein Vater wird gehen, wird unerreichbar werden für mich. Aber noch nicht jetzt.

***

Meine Mutter kommt von ihrer Reise zurück, gut gelaunt und belebt von neuen Eindrücken und Begegnungen. Nur ich bin seltsam grantig. Wir müssen reden, meine Mutter und ich, und ich will nicht, und muß doch.
Am Samstagnachmittag bitte ich sie um ein wenig Zeit, und wir setzen uns zusammen. Fast eine kleine Vorstandssitzung, sogar eine Agenda habe ich gemacht. Erst reden wir über die einfachen Dinge: meinen Vater, geplante Reisen, die Feiertage. Dann über das, was mir weniger leicht über die Lippen geht: dass ich mich manchmal fühle wie ein Zahnrad ohne Zähne, ich wirble mit aller Kraft um die eigene Achse, und treibe doch nichts an, nichts voran: dieses mäandernde Leben kommt nicht vorwärts. Mich frustriert das, und ich weiß, sie auch, und sie kann nicht verstehen, weshalb ausgerechnet ihr goldenes Kind, geboren in diesem Zeitalter aller Möglichkeiten, nicht mindestens einen Konzern leitet, und glücklich ist dabei. Deshalb pusht sie mich, ich verstehe das, aber all dieses pushen bringt nichts, außer dass ich mich schlecht fühle. Die einzige, die etwas verändern kann, bin ich. Und ich tue, was ich kann.

Und meine Mutter versteht, das ist ein großes Glück..

***

„Nach Hause“ tippe ich ins Navigationsgerät. Zuhause. Das ist dort, wo ich bin, wo ich bei mir bin. Ich komme an, zweihundert Kilometer, blaue Stunde. Laufe über den Parkplatz, und bin für einen Moment, ein Fragment, glücklich. Überraschend bin ich doch irgendwie die Frau geworden, die ich sein will.

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