Sommer

An manche Sommer habe ich gar keine Erinnerung.

Ich erinnere mich an die Sommer meine Kindheit, nackt unterm Rasensprenkler, die Kirschen direkt in den Mund, Mähdreschergeräusche, die gelben Stoppelfelder. Urlaub mit meinen Eltern in Südfrankreich, sehr heiß, im Auto noch heißer, die Fenster runtergekurbelt. Fahrtwind, Lavendelfelder, Netzmelonen, zuckersüß. Ein Kleidchen über den Kopf, ein Unterhöschen, in die Sandalen geschlüpft: fertig angezogen.

Als Teenager wurde es schwieriger: schwarz tragen bei dreißig Grad und mehr, dicke Jeans, geschlossene Schuhe, die Fingernägel schwarz lackiert. Doch die Abende, da konnte selbst ich nicht zynisch bleiben: kurz vor Zehn und immer noch nicht dunkel, eine Ruhe, die sich über alles legt, Töne von Blau und Grün, über die sich die Schatten der Nacht senken.

In Berlin dann der Sommer 2003, und ich im Radioaktivlabor, geschlossene Schuhe, lange Hosen, Laborkittel, Laborbrille, zwei Lagen Handschuhe, 39°C, Fenster, die sich nicht öffnen lassen. Schweiß wie Wasser, der mir beim Ausziehen der Handschuhe entgegenläuft. Schlaflose Nächte in Wohnungen, in denen kein Durchzug möglich ist.

Viele Jahre später dann, dreißig Stockwerke über der Stadt, alles klimatisiert, immer ein Strickjäckchen in Reserve über dem Bürostuhl, und abends beim Rausgehen die Hitze wie eine Wand, in die man hineinläuft. Und einmal, Safran und ich, weit heraus gefahren aus der Stadt, bam Waldrand liegend und in den Himmel schauend: Milchstraße, ISS, Sternschnuppen. Wünsche und Wassermelone, bis wir die Wildschweine hören, grunzend und grabend, und ganz schön Schiß bekommen.

Und dazwischen? Nichts. Ganze Jahre: nichts, keine Erinnerung. Waren die Sommer mau? Die Tage grau? Saß ich nur drinnen, die Rolläden runtergelassen, auf den Herbst wartend? Wo war ich? Im Ernst: wo war ich, war ich neben mir? Wieso war ich nicht hier, bei mir?

Und jetzt. Erst jetzt, im Urlaub, neun Tage am Stück keine Socken getragen. Zuhause oft nur Höschen und Kleid, obwohl ich *wirklich* einen BH brauche. Wassermelonen gegessen, Himbeeren, Kirschen, gerade Aprikosen und Zwetschgen. Eine Playlist gemacht und sie „Südfrankreich“ genannt. An drei Seen gewesen. Sand, naja, der ist mir zu sandig, aber der Sommerabend, das ist meine Zeit. In der Hollyoodschaukel gesessen, der Sonne zugeschaut, wie sie hinter den Hochhäusern verschwindet, die Grillen zirpen gehört, den Wind an meinen Beinen gespürt. Er fühlt sich gut an, dieser Sommer, mehr wow als mau. Ihn zu erleben, fällt mir nicht mehr so leicht wie als Kind, sondern verlangt eine bewußte Entscheidung. Aber ich bin ja auch kein Kind mehr, und ich weiß jetzt mehr denn je, dass meine Sommer nicht mehr unendlich sind.

 

4 Gedanken zu „Sommer

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