2030

Mein Weblog war down, hat aber niemand vermisst, außer mir. Blog like nobody is reading.

„Warum machen wir das eigentlich?“, frage ich Novemberregen, und sie macht unverbindliche Laute und beißt in ihre Schlangengurke. „Darauf weißt du auch keine Antwort, hm?“ sage ich, und wir nicken und fangen an zu tippen.

Beim Reparieren meines Weblos hab ich ein bisschen ins Archiv geschaut. Was so war, 2010, 2013 oder so. Wenn ich 2030 in mein Weblog schaue und mich frage, was mich so bewegt hat – gestern, heute, und morgen – dann werde ich hier folgendes lesen:

Lange mit Novemberregen unterhalten, über die Arbeit vor allem, und die Welt und die Menschen darin. Frau N. war heute ungewohnt ruhig, fast schon in sich gekehrt am Anfang unseres Gesprächs. Sie war vorher in einer Videokonferenz, und der Inhalt hat sie sehr beschäftigt. Ich sah es so richtig in ihr denken, das ist immer sehr schön.

Später hat sie mir dann von ihrem Problem erzählt, das ihr über den Kopf gewachsen ist. Es geht – ich denke, das darf ich verraten – um Sozialversicherungen. Mir scheint es so zu sein, dass das Problem Frau N. nicht über den Kopf gewachsen ist, nein, es handelt sich um eine Mischung aus Expertenwissen und Entscheidungskompetenz, die eben mal ausnahmsweise nicht in zwei halben Tagen, sondern eher nach ein bis zwei Dekaden relevanter Berufserfahrung erreicht wird. Und Frau N. macht eben hauptsächlich andere Dinge als Sozialversicherungen. Ich kam dann noch in den Genuß eines ca. 15minütigen, sehr detailreichen Vortrags von Frau N. zu diesem Thema. Etwa 8 Minuten lang konnte ich mithalten, dann düste Frau N. roadrunnermäßig gedanklich ab und ließ mich mit großen, verständnislosen Augen im Staub zurück.

Frau N. sah heute übrigens sehr gut aus, der Haarschritt steht ihr. Aber sehen Sie selbst:

Was war sonst noch. Sehr gutes Gespräch mit dem Head of Llama am Wochenbeginn. Hat mir Kraft gegeben für einige notwendige Schritte. Nächste Woche Gespräch über Kostenreduzierung mit dem Headquarter. Bei Frau N. war das schon, die sind uns immer etwa drei Wochen voraus, in allem. Es wird oft gesagt, dass wir keine Leute entlassen werden, beinahe schon zu oft. 2030 werde ich wissen, wie es ausgegangen ist.

Nach der Arbeit mit meiner Mutter spazieren gegangen. Ein Mann mit Hund an der Leine hat lange gewartet, bis wir endlich an ihm vorbeigegangen sind. Der Hund hat uns angebellt, er hat ja gemerkt, dass sein Halter ganz auf uns konzentriert war. Der Mann hat den Hund dann sehr angeschrien, ins Platz gezwungen, ist ihm dabei auf die Pfote getreten, und der Hund hat gejault. Wie eben ein Hund jault, wenn er oft geschlagen wird. Bricht mir das Herz.

Viele Bilder auch auf Twitter, die mir wehtun: George Floyd, wie er erstickt. Tränengas auf Demonstranten. Ein älterer Mann, der von Polizisten gestoßen wird, nach hinten fällt, mit dem Kopf aufschlägt, eine Blutlache bildet sich an seinem Hinterkopf, während sich der Griff seiner Hand um sein Mobiltelefon lockert und er ohnmächtig wird. Die Polizisten gehen weiter, niemand hilft ihm.

Wird sich 2030 etwas geändert haben? Oder werden die USA bis dahin eine Art von failed state sein, irgendwo zwischen Libanon und Russland?

Ein Bild von einem Mann aus dem Kongo, aufgenommen vor mehr als einhundert Jahren, der mit einem thousand yard stare auf abgetrennten Fuß und Hand seiner etwa fünfjährigen Tochter blickt. Kongogräuel auf wikipedia nachgelesen.

BoJack Horseman geguckt. Morgen dann die beiden letzten Episoden, the view from halfway down. BoJack, eine gezeichnete Figur mit dem Kopf eines Pferdes und dem Körper eines Mannes, war in den 1990ern Hauptdarsteller in einer berühmten Sitcom („Hey, aren‘t you the horse from Horsin’ around?“). Jetzt, beinahe am Ende der Serie, hat er so gut wie alles verloren, mehr als wir es uns als Zuschauer hätten vorstellen können. Vor allem sein Ruhm ist gänzlich zerstört. Ob er genau das braucht, um endlich frei zu sein?

Man weiß nie genau, was kommt, und wie es weitergeht. Vielleicht machen wir es deshalb, Frau N. und ich, mit diesem aufschreiben. Um einen Moment innezuhalten, Bestandsaufnahme, sehen und fühlen, was ist, reflektieren, bevor sich alles, unvermeidlich, so wie es sein muss, weiterdreht.

12 Gedanken zu „2030

  1. Doch, doch, dieses Blog wird mit Begeisterung gelesen (ebenso wie Frau Novemberregen) und wurde sehr vermisst.
    Bitte weiter so, Ihre Themen und Ansichten bereichern meinen Tag.
    Sonnige Eifelgrüße
    Mo

  2. Ich habe in den letzten Jahren sehr viele tolle Blogs verschwinden sehen.
    Oft von jetzt auf gleich ohne Begründung – meine eigenen gingen ja auch so…
    Man wird nie erfahren, warum es geschah und wem man fehlen wird.
    Isso.
    Aber für mich kann ich sagen, dass ich einige davon vermisse.
    Isso.
    Danke fürs teilhaben am Leben.
    Ich lese gerne mit ohne zu kommentieren…

  3. Stimmt. Ich habe bemerkt, dass Ihr Blog down war. Aber es war mir nicht egal. Ich lese nach all den Jahren immer noch und immer wieder sehr gern bei Ihnen.
    Die Zukunftsvision von den USA beschäftigt mich auch schon länger. Habe da immer so vage ein paar science fictions im Hinterkopf, dir das vorausgesagt haben.

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