13. November 2020

Als ich gerade in diese Stadt gekommen war, also vor etwa zehn Jahren, bin ich einem der besten Bücher begegnet, die ich je gelesen habe: The City & the City, von China Miéville. Die eine Stadt, Besźel, und die andere Stadt, Ul Qoman, teilen sich denselben Ort – nein, sie existieren am selben Ort, wie zwei ineinander verschränkte Hände, wie zwei Bilder, die sich überlagern. Die Bewohner der beiden Städte sprechen unterschiedliche Sprachen, sie haben ein unterschiedliches Alphabet, sie kleiden und bewegen und verhalten sich ganz unterschiedlich. Sie haben von klein auf gelernt, die andere Stadt und seine Bewohner nicht zu sehen, sie sogar bewußt zu ent-sehen, aus ihrer Wahrnehmung zu löschen. Es ist so selbstverständlich, das andere nicht wahrzunehmen, dass die Leute noch nicht einmal sagen können, ob es verboten ist, tabuisiert oder einfach eine tief eingegrabene Gewohnheit ist. Das Nicht-Sehen ist noch nicht einmal ein Thema, und es würde niemanden einfallen, darüber zu sprechen.

Und dann geschieht ein Mord, den die Hauptfigur – ein Kriminalkomissar – nur aufklären kann, wenn er in beiden Städten ermittelt.

Ich weiß noch genau, wie ich damals dieses Buch gelesen habe, hauptsächlich in der U-Bahn. Es war Winter, denn ich habe einen Mantel getragen. Ich weiß noch, wie es am Bahnsteig immer gerochen hat, wie das Neonlicht flackerte, welche Farbe die Züge hatten und der Bezug der Sitze, und welches Geräusch die U-Bahn beim Einfahren gemacht hat. Wie sie Wind erzeugt hat, und meine Haare waren lang.

Hin und wieder habe ich aufgeblickt, in diese Stadt, und die Menschen, die in ihr leben: die ganz armen und die ganz reichen, und die in der Mitte; die Suchtkranken und die Rechtschaffenen. Die einen, denen man es ansieht, und die anderen, bei denen man es nur vermutet. Die, die von der Arbeit kommen, und die, die gerade hingehen und die, die keine haben. Die Verliebten und die verbitterten, die traurigen, die müden, die aufgekratzen, die feiernden.

Sie scheint mir eine der kleinsten Metropolen der Welt zu sein, diese Stadt. Man muss nur ein paar Schritte gehen, um von den Bankentürmen zu den Bordellen zu kommen. Und oft gibt es an genau derselben Stelle eine andere Stadt, sobald sich die Uhrzeit ändert.

Gerade ist es auch eine andere Stadt, in dieser seltsamen Zeit. Der stille November. Ich könnte gar nicht den Finger drauf legen, es ist nicht schlimm, ich fühle mich nicht fremd, aber es fällt mir auf.

Ich fühle mich auch nicht fremd von der, die ich vor zehn Jahren war. Ich weiß noch genau, wie das damals war, wie es sich angefühlt hat und welche Farben es hatte. Aber es kommt mir sehr weit weg vor, wie etwas, das ich gesehen hatte, bevor ich in den Zug eingestiegen und weit weg gefahren bin.

Kontakttagebuch: eine Besprechung zu dritt in einem zu kleinen Raum mit Abstand, aber ohne Maske. Die üblichen im Büro. Meine Mutter.

5 Gedanken zu „13. November 2020

  1. Ich möchte nur mal eben loswerden, dass ich mich hier auf Ihrer Seite sehr wohlfühle und sie ganz wunderbare (wenngleich melancholische) Texte schreiben. Liebe Grüße!

  2. Wundervoll sind gerade die melanchonischen Texte! Wie auch der Rest…
    Gerade deshalb lese ich hier so gerne und freue mich sehr, in diesem November so oft in den Genuß zu kommen.
    Viele Grüße, Christine

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