Aufgestanden. Geduscht. 30 Minuten Haare gebürstet. 400 km Auto gefahren. Sehr gelangweilt. Angekommen. Meine Mutter und meinen Vater umarmt. Kaffee getrunken. Mir vom anstehenden Prozeß gegen die zahlungsunwillige Mieter der Wohnung meiner Eltern erzählen lassen. Ankunft Schwester. Schwester bewohnt das Haus meiner Eltern in deren Urlaubsabwesenheit. Großer Bahnhof, weil Schwester ihren Ehemann, ihren Hund und ihre beiden Pferde (!) mitgebracht hat. Danach mit Schwester und Hund kurzen Spaziergang gemacht. Das Gras steht sehr hoch, selbst auf den Feldwegen. Mich meiner Schwester sehr nah gefühlt. Mich klein gefühlt, nicht unbedingt auf negative Weise, einfach klein und jung und kindlich. Meine Schwester ist sehr schön. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, erscheint sie mir noch schöner, ganz schlank und wie eine Prinzessin aus dem Märchen.
Nach Hause gekommen, umgezogen und aufgehübscht. Mich gesorgt, nicht vorzeigbar zu sein. In schwarz gekleidet, mit offenen Haaren und Perlenohrringen, die mir meine Schwester zu Weihnachten geschenkt hatte, dann doch präsentabel gewesen.
Onkel Reinhold und Tante Sigrun abgeholt und zu siebt in ein edles Restaurant gegangen. Onkel Reinhold ist kein Nennonkel, aber auch kein richtiger Onkel. Er ist das Kind aus der 2. Ehe meines Großvaters mit einer jugoslawischen Adeligen; meine Mutter ist Kind aus der 3. Ehe meines Großvaters mit einer blutjungen Dolmetscherin. (Von seiner ersten Ehe mit einer Barpianistin sind leider keine Kinder und nur wenige Geschichten überliefert.) Onkel Reinhold ist bzw. war ein berühmter Rechtsanwalt, hat ca. 30 Bücher veröffentlicht und hat gerade eines in Vorbereitung. Er ist Experte für Verfassungsprozeßrecht und ein ziemlicher Narzißt. Insofern muß man sich keine Gedanken über das Tischgespräch machen; es geht sowieso den ganzen Abend nur um ihn. Als er mich gefragt hat, wie es bei mir denn so läuft, habe ich gelogen und gelächelt und gesagt: „alles blendend“, wie es von mir erwartet wurde.
Zwischendurch mußte ich ihn doch bewundern. Äußerst scharfsinnig, überaus gebildet. Wir sind eine Familie von durchgeknallten Intelektuellen, allesamt.
Nach mehreren Stunden und mehreren hundert verspeisten Euros nach Hause gegangen. Geschlafen. Aufgestanden. Die Eltern zum Flughafen gefahren. Meine Mutter extrem gereizt, wie immer, wenn sie unter Streß steht, hat mir auf der Autobahn erzählt, wie sehr sie unter dem Verlust ihres Vaters, meines Großvaters, gelitten hat. Und ich wußte nichts zu sagen, hatte Tränen im Hals. Laß uns einfach vor dem Flughafen raus, sagte sie, und zwei Minuten später waren sie weg.
Und so kam es, daß wir nicht über unseren Streit geredet haben. Kein weiterer Streit, keine Rumgeheule, keine unangenehmen und peinlichen Situationen für mich. (Und niemand hat gesagt, ich wäre zu dick.)
Vielleicht ist es nicht verwunderlich, daß mir mein Vater weiterhin fremd geblieben ist. Als hätten wir uns schon lange entfremdet, schon vor unserer eigentlichen Auseinandersetzung. Als wäre etwas an mir, daß ihn auf Distanz hält.