Abendbrot mit einer Freundin und deren Tochter, die noch nicht ganz ein Jahr alt ist und gerade lernt, eigenständig zu essen. Sie greift nach kleingeschnittenem Gemüse, kleinen Ecken von Brot oder Käse, auch das Essen mit einer Kindergabel wird schon eifrig geübt.
Ich denke an meinen Vater, der im letzten Jahr seiner Erkrankung verlernte, selbst zu essen. Ihm gelang einfach die Koordination zwischen Hand und Essen nicht mehr, zwischen Hand und Gabel oder Löffel schon gar nicht, auch der Pinzettengriff wurde schwierig. Meine naturwissenschaftliche Ausbildung sagt: die Teile des Gehirns, die für diese Funktionen notwendig sind, waren zu diesem Zeitpunkt schon zu sehr geschädigt. Aber meinem Herz hat es damals mehr weh getan als das meiste andere: der Verlust der Gehfähigkeit, die Inkontinenz, all das.
Er war nicht sehr lange im Heim, ein paar Monate, seine letzten Monate. In meiner Erinnerung ist diese Zeit überrepräsentiert, ich habe ein vages Gefühl, warum, aber es tut nichts zur Sache. Ich erinnere mich vor allem daran, wie ich neben ihm beim Abendbrot saß, und ihn gefüttert habe: belegtes Brot, in kleine Häppchen geschnitten, die von mir mit der Gabel in seinen Mund transportiert wurden. Es war elend, dort neben ihm am Tisch zu sitzen, die anderen Erkrankten seiner Wohngruppe um uns herum, zwei Pflegerinnen, die herumwuselten. Ich saß dort, wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder. Es hat mich wahre Demut gelehrt, meinen eigenen Vater zu füttern. Und es war eines der wenigen Dinge, die ich in diesem letzten Jahr noch für ihn tun konnte. Jetzt kann ich nichts mehr für ihn tun; es ist alles getan, was möglich war.
Eine merkwürdige Symmetrie, denke ich, wie ich da am Abendbrottisch mit der Freundin und ihrer Tochter sitze: wie wir am Anfang des Lebens lernen, selbst zu essen, und es dann am Ende des Lebens wieder entlernen. Mit Kindern ist es wie mit einem Gebäude, das von Grund auf neu errichtet wird, immer schöner, prächtiger, detaillierter wird. Bei meinem Vater war es wie mit einem Bankenturm, aus dem alle ausziehen, der dann Stück für Stück entkernt wird, bis auf das Skelett aus Stahl, und auch dieses eines Tages zerfällt. Und so habe ich ihn verloren, ganz und gar, und bleibe doch immer mit ihm verbunden.
Es ist nicht nur das Essen, was man am Anfang lernt, dann wieder verlernt. Genauso verhält es sich mit dem Laufen, mit dem eigenständig aufs Klo gehen, reden, dies und das. Eigentlich mit so ziemlich allem. Es ist ein Zyklus mit lernen, können und wieder verlernen. In einem positiven Licht betrachtet, darf man stolz sein, wenn man diese Phasen durchlaufen hat. Gibt halt nur keine Medaille.
Das ein ein sehr schöner Text.
Ja, ach ja. (( ))
Ich denke das so oft, wenn ich mit einen Kinderwagen schiebe und einem Rollstuhl mit einem alten Menschen entgegenkomme, oder wenn mein kleines Mädchen selbst seinen Buggy schiebt und uns eine alte Dame mit Rollator begegnet. Auch bei Fremden ein merkwürdiges Gefühl.