Auf meinem Laptop befindet sich ein Snoopy-Sticker. Er dient dazu, die Webcam zu verdecken. Ich denke zwar nicht, dass jemand die technische Möglichkeit ausnutzen wird, mich durch meine Webcam auszuspionieren, aber andererseits ist der Laptop häufig an, wenn ich zuhause bin, und ich bin öfter mal nackt, schlecht frisiert, popele in der Nase, und in den goldenen Zeiten meines Privatlebens hatte ich auch schon gelegentlich Herrenbesuch auf meinem Sofa (beide Parteien gut frisiert, ggf. nackt). Ich schweife ab. Die relevante Frage lautet: wieso besitzt eine Frau wie ich einen Snoopy-Sticker? Zum einen ist Snoopy natürlich der coolste. Zum anderen besitze ich eine ganze Sammlung von Stickern (Define, Pandas, Sterne, Herzen, Glitzer..), und das ist eigentlich eine traurige Geschichte. Ich habe fünf Jahre promoviert, was mindestens zwei Jahre mehr waren, als gut und nötig gewesen wäre. Mein Doktorvater war sehr ambitioniert, und hat mich (und andere Doktoranden) als billige Arbeitskraft ausgenutzt. Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Problematik so in einem Satz zusammenfassen lässt oder nicht doch komplexer ist, aber so ganz falsch liest es sich nicht. Das Machtverhältnis Doktorvater – Doktorand ist ziemlich hart, es gibt da wenig zu verhandeln und letztendlich nur die Möglichkeit, durchzuziehen oder abzubrechen. In dieser Entscheidungsfrage habe ich mich von einem Coach beraten lassen, und habe mich fürs durchziehen und durchhalten entschieden. Das Durchhalten war ganz schön schwierig, weil meine Doktorarbeit für mich schon längst gestorben war, eine Leiche, neben der ich saß und der ich beim verwesen zusah. Mein Doktorvater aber wollte Ergebnisse, immer mehr und mehr, Abbildungen für Publikationen, und ich stand im Labor und pipettierte, tagelang, nächtelang, kein Wochenende, keine Feiertage. Ich habe mir eine Liste gemacht mit dem, was ich mir für die Woche vorgenommen habe, und abends habe ich mir Sticker gegeben für das, was ich erledigt hatte. Total bekloppt, aber es waren wirklich verzweifelte Zeiten.
Heute habe ich im Auto einen Vortrag über Prokrastination, also die Schwierigkeit, Motivation zu finden und Aufgaben zu beginnen, gehört. Am Fall einer jungen Studentin wurde aufgezeigt, dass Prokrastination auch eine Schutzfunktion haben kann, und zwar dann, wenn sie davor schützt, in den Burn out zu kommen, sich selbst zu überfordern, Grenzen zu überschreiten.
Ich war damals ganz schön nah an meiner Grenze. Rückblickend ganz schön armselig, dass ich mich so habe bescheißen müssen, mit Stickern… Zum Glück war ich dem Suizid stets fern, denn ich liebe das Leben in guten wie in schlechten Zeiten. Suizide unter Doktoranden sind zumindest von Hörensagen her nicht gerade selten: eine Kollegin von mir fand eines morgens einen Kollegen, der sich im Büro erhängt hatte. Eine andere hatte eine Freundin, die viel davon sprach, sich zu suizidieren, bis sie es eines Tages auch tat. Ich kann ein Stück weit nachvollziehen, wie man in eine solche Situation geraten kann, von der man meint, sie nicht anders auflösen zu können als mit einem endgültigen Schnitt. Das System des akademischen Elfenbeinturms mit seiner Selbstreferenz und seiner Geschlossenheit begünstigt solche Abwärtsspiralen sicherlich.
Ich hätte auf diese Grenzerfahrung gerne verzichtet. In meinem jetzigen Berufsleben beobachte ich an mir, dass ich ziemlich belastbar und leistungsfähig bin, vielleicht als Ergebnis der Erlebnisse in der akademischen Welt. Manchmal verlasse ich mich aber zu sehr darauf, in schlimmen Zeiten gut funktioneren zu können, und ruhe mich zu sehr auf dem Status Quo aus. Mehr könnte ich aber erreichen, wenn es mir gelänge, positiv etwas aufzubauen, nachhaltig Strukturen zu schaffen.
Ja. Das ist eine dieser Geschichten, die man gut und gerne auch zwei- oder dreimal lesen kann. Vielen Dank dafür.
Was ich aber eigentlich sagen wollte: Sie sind jetzt (mit wenigen kurzen Unterbrechungen) fast drei Jahre lang vermisst worden. Ich begrüße ganz ausdrücklich diese Rückkehr. – Das musste mal gesagt werden.
Zu der langjährigen Gilde der „follower“ gehöre ich nicht, bin aber wie Sie mehr als froh über Frau Fragmentes Blogs und finde, es gehört eine Folgewette, da sich das formale Ende bereits abbildet.
So schöne Texte, so wichtige Themen.
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Das mit den Stickern zur Selbstmotivation ist so rührend wie traurig…
Danke für den Tipp, den konnte ich gerade gut gebrauchen. Bin dank Prokrastionation kurz vorm Nervenzusammenbruch und kann jeden Tipp gut gebrauche. Auch Snoopysticker.