Ich arbeite in der Stadt, aber ich wohne auf dem Land. Der Weg vom Büro nach Hause führt zuerst durch die Schluchten der Bankentürme hindurch, manchmal im Regen, alles grau, manchmal in der blauen Stunde, und die Türme leuchten zart wie Lampions. Dann auf die Autobahn, die Autos sortieren sich an den Autobahnkreuzen, es ist ein Hin und Her, ein Rennen oder ein Kämpfen oder ein Tanz. Links von mir als nächstes der Flughafen, wir fahren unter den landenden Flugzeugen hindurch, ein paar Mal habe ich es erlebt, dass das Steuer zart vibriert hat unter ihrem Dröhnen. Jetzt wird es ganz gerade, viele Kilometer lang, einfach geradeaus, wie mit dem Lineal gezogen. Wenn es ein guter Tag war, dann spielt meine Playlist das richtige Lied, die richtigen Beats, sanft oder rhythmisch wie ein Herzschlag, und etwas in mir verschiebt sich an einen anderen Platz, ich gleite aus der einen Rolle in eine andere. Ein anderes Selbst.
Irgendwann dann die richtige Abfahrt. Ein paar hundert Meter zwischen den Feldern durch, im Sommer ist dies der Ort, an dem die Sonne untergeht, und mir ist hier einmal ein sehr aufgeregter Fasan begegnet. Dann ein Dorf, kein Lied lang, höchstens einen Vers, und wieder Felder auf der einen Seite, Wald auf der anderen, ein Graben mit Wasser, die Straße uneben, eine Senke, eine Kurve. Das Ortsschild. Ein paar Häuser. Eine Abzweigung. Zuhause.
Als ich hier noch nicht lange wohnte, ein paar Wochen erst, ging genau zwischen den beiden Dörfern ein Igel über die Straße. In der Dämmerung, vielleicht auch schon Nacht, genau da, wo die kleine Senke ist. Und ich sah ihn, wie er da mit seinen kleinen Beinchen hinüberhastete, und ich bremste, aber ich wusste schon, dass die Physik uns unwiderruflich an denselben Ort bringen würde. Ich habe noch ein wenig gelenkt, so dass er nicht von einem der beiden Reifen plattgefahren wurde, aber – ich bin über ihn drüber gefahren. Ich war sehr traurig. Der arme Igel!
Und so gut wie jedes Mal, wenn ich an dieser Stelle vorbeifahre, denke ich an den Igel. Ich habe wahrscheinlich schon länger an den Igel gedacht, als Igel überhaupt leben, so im Durchschnitt. Zwischenzeitlich war ich zu dem Schluß gekommen, dass der Igel überlebt hat, weil ich keinen plattgefahreren Igel auf der Straße gesehen habe am nächsten Tag, und weil da ja ein bisschen Luft war zwischen der Straße und meinem Bodenblech. Als nächstes habe ich sehr lange darüber nachgedacht, ob ich mir das nur einrede, damit ich mich besser fühle, ob ich meine Erinnerungen verfälsche. Jetzt gerade überlege ich, wieso mir die Sache mit dem Igel so nahe geht, ich gestern aber mit großem Genuß ein Steak gegessen habe.
Und all diese Orte. Ich möchte eine Serie machen über Orte, wie sie existieren in der Erinnerung, in der Vergangenheit, in einem kurzen Augenblick, in genau diesem Licht und sonst nicht.
Der Igel, jedenfalls. Ich fahre seitdem immer langsam, an dieser einen Stelle, an der ich einen Igel überfahren habe. Ich fahre langsam, und deshalb habe ich keines der Rehe überfahren, die dort überraschend oft über die Straße fetzen, wenn der Winter lang war oder die Brunft heiß. Ich habe kein Kätzchen überfahren, kurz hinter dem Ortsschild, und auch kein ungeschicktes kleines Kind auf seinem Roller.
Danke, Igel.
Danke Igel und danke Frau Fragmente für den schönen Text.
Danke für weitere Splitter deines Lebens, ich genieße ihr Glitzern sehr.
So ein schöner Text.