Es ist nicht so, dass die Straßen ganz leer wären. Nicht so wie nach dem Marathonlauf, wenn meines das erste Auto ist, das wieder fahren darf. Nicht so wie nachts um zwei oder morgens um sechs Uhr auf dem Weg zum Flughafen. Es ist mehr so ein Samstagnachmittagsverkehr, als würde ich zum Schwimmen im Badesee mit Novemberregen fahren.
Nur, dass ich es nicht tue. Ich fahre ins Büro, ein bisschen leerer als sonst, aber bei weitem noch nicht so leer, wie es sein sollte. Das macht mir große Sorgen, dieses Fehlen von Leere. Wie es in der Stadt aussieht, weiß ich nicht, denn ich habe aufgehört, Mittagspause zu machen.
Ich habe aufgehört, eine To-Do-Liste zu machen, dann habe ich wieder angefangen, aber sie passt jetzt auf die Rückseite einer Visitenkarte. Ich habe angefangen, Sneakers zu tragen, denn ich laufe den ganzen Tag durchs Büro und löse Probleme, von denen ich nie dachte, dass es sie geben könnte. Meistens sind es IT-Probleme, von Fenstern, die sich nicht öffnen, Log-ins, die verweigert werden, Icons, die fehlen. Fast nie weiß ich eine Lösung, ich bin nämlich keine IT-Frau, und dennoch bedanken sich die Leute sehr nett und aufrichtig bei mir, vor allem am Telefon, vielen lieben Dank, Fragmente, sie meinen das ernst, und ich fühle mich nicht gut dabei. Traurig, besorgt, impotent.
Die deutlichste Veränderung gab es bei der Videokonferenz. Letzte Woche war der Board Room noch voll bis auf den letzten Stuhl, Anzüge und Kostümchen. Dann wurde er leerer, die Herren verloren die Krawatten, Hemdknöpfe gingen auf. Am unteren Bildrand erschienen kleine Fenster mit Leuten, die von zuhause zugeschaltet waren. Es gab eine Menge unterschiedlicher und sehr individueller Wohnraumeinrichtungen zu sehen. Männer, die ich nur im Anzug kannte, tragen plötzlich labbrige Poloshirts oder farbintensive Kaputzenpullis. Und der eine Head of schmückt sich mit riesigen Over Ear Kopfhörern, bestimmt ein Audiophiler. Und ich jetzt in Sneakern, aber die Videokonferenzen haben aufgehört, wurden zu einer Telefonkonferenz, wegen der Bandbreite, und ich nehme nicht mehr teil, ich habe zu tun.
Morgens, nachdem ich den Nachrichtenticker gelesen habe, überkommt mich oft eine kleine Welle der Verzweiflung. Es steigen ungefragt Bilder in mir auf, zum Beispiel letzten Sommer, als ich auf dem riesigen Krankenhausparkplatz in Glasgow nachts um halb zwei einen Fuchs gesehen habe, ihn beobachtet habe, minutenlang. Oder vor ein paar Jahren, als ich von der Autobahn abgefahren bin, ziellos, entscheidungslos, alles egal, und dann: ein Wanderzirkus.
Es hilft, ins Büro zu gehen. Es wird mir fehlen, wenn ich es nicht mehr kann, oder nicht mehr darf. In ein paar Tagen wird es soweit sein, schätze ich. Es hilft, ins Büro zu gehen, weil es mich einschnürt in ein Korsett aus Gewohnheiten, das mich hält. Es scheint nicht möglich, dass sich der Lauf der Welt ändern könnte, wenn doch die Abfolge der Alltäglichkeiten so ist wie immer. Aufzug, Karte, Drehkreuz, Eingangstür, Zeiterfassungsgerät. Guten Morgen.
Es scheint aber möglich, dass wir es nicht schaffen werden, das Büro leer zu bekommen. Alles hängt mit allem zusammen, schon klar, und dass es die Kleinigkeiten sind, an denen es hängt, leicht gesagt. Jetzt spüre ich das Ausmaß dieser Kleinigkeiten, das Meer an Interkonnektivität. Wenn wir untergehen, dann, weil uns irgendwo eine Schraube gefehlt hat.
Heute kurz zum heulen gefühlt, es stieg schon ein bisschen hoch in mir. Aber ich bin dazu nicht der Typ, ich heule ausschließlich zuhause, höchstens im Auto.
Die Krise verstärkt in jeden Menschen die negativen, aber auch die positiven Eigenschaften. Ich selbst bin da keine Ausnahme. Die Leute im Büro fallen exakt an den Linien auseinander, die ich schon kannte: wer dazu neigt, in die Krankheit zu fliehen, ist krank. Wer verlässlich ist, kommt. Es gibt die, die nur an sich selbst denken, und die, die nur an andere denken.
Ein Mitarbeiter, der bereits einen Bürgerkrieg durchlebt hat, hat mich angerufen und mir angeboten, auf seinen Urlaub zu verzichten. Er möchte dem Büro etwas zurückgeben. Ein anderer Mitarbeiter hat mich gefragt, ob wir über den Account des Büros Toilettenpapier für ihn privat bestellen könnten. Er bekommt keines mehr im Supermarkt, sagt er, und er würde ja schließlich auch kommen und arbeiten?
Vor einer Woche haben Novemberregen und ich noch über das Home Office gewitzelt. Ich würde dann erstmal ausführlich eine Pediküre machen. Und dann endlich Zeit, meine 147 ungelesenen Emails zu beantworten, endlich alles aufarbeiten, wozu man sonst nie kommt. Damals war ich schon erschreckt über die Zahlen: 350, 534, 795. Jetzt sind es über 10.000.
Die Leere wird kommen. Die nächsten Tage werden entscheiden, ob es eine Leere ist, die wir gestaltet haben, oder eine, die über uns gekommen ist.
„Es scheint nicht möglich, dass sich der Lauf der Welt ändern könnte, wenn doch die Abfolge der Alltäglichkeiten so ist wie immer.“ – Vielen Dank dafür, Sie schreiben mir aus der Seele. Noch darf ich auch täglich ins Büro, aber wohl nicht mehr lange. Und das wird mir sehr fehlen, nie hätte ich gedacht, das mal zu schreiben.
Ähnliches erlebt wie hier beschrieben, im Hinblick auf das veränderte Verhalten einiger meiner Büro-Mit-Menschen so plötzlich und ohne konkreten Anlass, nur weil die befürchten zu kurz zu kommen oder etwas zu verpassen. Ich kann jedenfalls meinem Menschenverstand weitestgehend immer recht gut noch trauen.
Wieso wirst Du zu IT Problem gerufen, wenn Du dort nicht tätig bist? Weil du noch an antwortest und Dich kümmerst?