der Wunsch im Wandel der Zeit

Mit dem Ausgehen war das so eine Sache. Meine Eltern sind alternativ angehauchte Intellektuelle, die sich ihren Traum von einem Haus im Grünen erfüllt hatten. Für mich bedeutete das, daß ich idyllisch aufgewachsen bin, den ab dem Alter von sechzehn eintretenden Wunsch nach Nachtleben jedoch nur schwer erfüllen konnte.
Mein Elternhaus steht am Rande eines 50-Seelen-Dorfes. Die Schulstadt, zehn Kilometer entfernt, hatte immerhin ein Jugendzentrum, wo ich öfters Dorfpunk (=niemand beherrscht sein Instrument) ertragen habe. Ansonsten war ich ein paar Mal auf irgendwelchen Faschings- oder Silversterparties in Mehrzweckhallen oder – typisch schwäbisch – in einer Kelter. In der Nähe meiner Freundin Anna gab es eine Großraumdisko, an einer Autobahnausfahrt und Bundesstraße gelegen, im Gewerbegebiet. Sie spielten die Charts und machten Tequilaparties. Ich war zweimal da. Damals war ich noch mehr ein Musiknazi als heute, ich wußte ja auch nicht, daß die Musik der Neunziger verglichen mit der Musik der Nuller Jahre gar nicht mal so schlimm war. Gabs damals eigentlich schon Scooter?
Die Stadt, die noch viel größer war als meine Schulstadt, hatte immerhin eine Disco, die Nirvana spielte, Alice In Chains, The Offspring. Dorthin zu kommen, war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit: man mußte jemand finden, der einen fährt, der lieber Alice in Chains als Scooter hört und bei dem ich übernachten konnte.
Immerhin schaffte ich es mit der Hilfe meines schwulen Schulfreundes Oliver, der zwischen mittlerer Reife und Abitur eine Ausbildung gemacht hatte, daher älter als wir war und nicht nur den Führerschein, sondern auch ein Auto (!) hatte, sogar einmal in eine akzeptable Disco in Stuttgart.
Trotzdem hatte ich das Gefühl, noch nichts erlebt zu haben, und ich hoffte, mit dem Studium, einem Führerschein, einem Auto und einer eigenen Wohnung würde sich das ändern. Leider hatte ich mir eine kleine Stadt in Nordbayern ausgesucht und ging am Ende weniger aus als vorher. Ich hatte Schwierigkeiten, Freunde zu finden, was einerseits mit meiner Persönlichkeit zusammenhängen mag, andererseits auch damit, daß die meisten meiner Kommilitonen am Wochenende – gerne schon ab Donnerstag – nach Hause fuhren. Entweder nach München, wo sie bis in den frühen Morgen auf Raves gingen, oder nach Cham und Deggendorf, wo sie ihre getunten Golfs vor der Großraumdisko parkten. Montagmorgens saß der junge Mann, in den ich unglücklich verliebt war, neben mir in der Vorlesung Anorganische Chemie und erzählte mir mit schwarzen Schatten unter den Augen von der Party in einem stillgelegten U-Bahn-Schacht, die er soeben erst verlassen hatte. Ich saß daneben, war neidisch und fand, das Leben ginge an mir vorbei.
Nach drei Semestern trennte ich mich von Nordbayern und zog nach Berlin, der Stadt, in der man monatelang tot in seiner Wohnung liegen kann, ohne daß es jemand merkt. Glücklicherweise war ich irgendwie gereift und habe mir in Berlin einen kleinen Freundeskreis aufgebaut, unter anderem lernte ich damals Ruth und Justyna kennen. Und endlich! Wir zogen durch die Clubs – Gothic, you know? Linientreu, K17, Kato, und wie hieß nochmal das mit dem Raumschiff?
Es war schön. Es war so dunkel, daß es egal war, daß ich nicht tanzen kann – manchmal hatte ich Schwierigkeiten, meine Freundinnen wiederzufinden. Die S/M Lack und Leder-Fraktion hatte sich noch nicht so stark mit der Gothicszene vermischt, Gothic Lolitas gabs noch gar nicht, also trug ich ein schwarzes Oberteil, schwarze Hosen und Doc Martens, ein wenig Schmuck und schwarzen Lidschatten. Manchmal steckte ich mir die Haare hoch, Sie wissen schon, ein bisschen wie Robert Smith. The Cure wurden viel gespielt und Depeche Mode, EBM, Silke Bischoff.
Ich war verliebt in den DJ. Kein Witz jetzt, obwohl man darüber streiten könnte, ob ich verliebt war oder nur betört oder gar einfach entschlossen, nach dem Informatiker aus Nordbayern und dem Curefan aus Kiel jetzt endlich wieder einen Freund zu haben, egal wen. Und ein DJ war da nicht das schlechteste: ich bekam freien Eintritt und meine Musikwünsche gespielt.
Ob zum besseren oder schlechteren: in diesem Alter ist man oft zusammen, bevor man sich überhaupt kennt. Leider stellte sich nach einigen Wochen heraus, daß der DJ mächtig einen an der Klatsche hatte. Und ich meine jetzt nicht so Kid37- liebenswerte- Spleens, sondern mehr so psychisch krank. In einer Gartenlaube geboren, Legastheniker, Stotterer, verprügelt worden, mit fünfzehn verwaist.
Tagsüber arbeitete der DJ in einem Eisenwarengeschäft in Neukölln, wo er – wen überrascht es – ziemlich ausgebeutet wurde: keine Mittagspause, und bloß keine Gewerkschaft!
Nach gemeinsam verbrachten Nächten brachte ich ihn immer mit dem Auto nach Hause: ich meine, wir mußten dazu um vier Uhr aufstehen. Als ich ihn einmal fragte – warum denn so früh? Um wieviel Uhr er anfangen muß zu arbeiten? Sechs? – da erzählte er mir folgendes: er ginge immer nach Hause, zöge sich vollständig bis auf die Schuhe AN, und lege sich wieder ins Bett. Dort bliebe er liegen, am besten mindestens eine, besser zwei Stunden, manchmal schlafe er sogar noch einmal ein. Wenn sein Wecker klingele, stünde er direkt auf, zöge sich seine Schuhe an und ginge zur Arbeit. Anders könne er es nicht ertragen.
Mich erschreckte das ziemlich, so sehr, daß ich mich zügig von ihm trennte. Obwohl ich heute noch einen Stich vom Scham spüre, mußte ich doch erkennen, daß ich ihm nicht helfen konnte und kann. Es gibt viele Aspekte, die nicht in diese Zeilen passen, also wollen wir es dabei belassen: der DJ und ich trennten und, und er bat mich, doch mal ein paar Wochen nicht in die Clubs zu kommen, in denen er auflegte.
Und so hörte ich auf, auszugehen. Der Wunsch nach Nachtleben verschwand einfach und kam auch in den Jahren nach dem DJ nicht mehr wieder. Natürlich habe ich trotzdem ein soziales Leben: ich traf und treffe mich mit meinen Freunden – zuhause oder man geht essen. Ich besuche Ruth und Justyna und Glam. Ich rede mit Midori bis nachts um zwei. Ich gebe Einladungen zum Essen und koche drei Gänge. Ich gehe zu Bloggertreffen und einmal im Jahr zum Blogmich in Berlin. Hin und wieder auf eine Lesung, selten auf ein Konzert.
Letzten Samstag schaltete ich das Radio ein – ich höre eigentlich kein Radio, aber irgendwie… es war schon nach Mitternacht, ich machte mich zurecht, um ins Bett zu gehen. Im Radio spielten sie einer Art von DJ-Mix, und ich stellte mir vor, wie die Leute im Auto oder zuhause diesem Sender zuhören und sich einstimmen auf die lange Nacht in der Disko, zu der sie gleich aufbrechen werden oder schon aufgebrochen sind. Wie sie sich zurechtmachen, schminken, vielleicht vorglühen. Und wie wenig mir das bedeutet, wie sehr ich in diesem Moment überrascht war von dem Gedanken, samstags abends auszugehen, weil sich die Frage für mich schon so lange gar nicht stellt.

Jetzt! Jetzt kommt die Pointe. Ich frage mich, ob es nicht mit vielen Dingen im Leben so ist: daß man sich etwas sehnlich wünscht, vielleicht auch erlebt, und eines Tages verschwindet der Wunsch. Es ist vorbei, es bleibt nichts zurück, kein Bedauern, kein Entsagen. Nur eine milde Verwunderung.

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