Flackernd

Mir einen Tag frei genommen, um mit meiner Mutter ihren Geburtstag zu feiern. Großes Bedürfnis, den Tag zu dokumentieren – weshalb eigentlich? Und mit welchen Gefühlen werde ich diesen Text später einmal lesen?

Früher Wecker, aufgestanden, bisschen Internet, kleines Frühstück, geduscht, Föhnfrisur, nett angezogen, Geburtstagskarte geschrieben (Geschenke hatte ich schon am Vorabend verpackt) und meine Mutter besucht. Gratulation und Geschenkübergabe, sie hat ausgepackt und sich gefreut. Neues iPhone eingerichtet oder es zumindest versucht. Gegen zehn trotz Urlaub kurz an den Arbeitsrechner, Telefonat mit meinem Chef, eine Sache erledigt, sicher nicht mehr als 15 Minuten, den Rest des Tages keinen Gedanken mehr ans Büro. Zum einkaufen gefahren, Einlasskontrolle beim Supermarkt, drei Leute in der Schlange vor mir, dann darf auch ich rein. Markt trotz Einlasskontrolle voll. Anstrengend, immer wachsam sein zu müssen, immer auf Abstand zu achten. Weitergefahren zum Spargelstand, der aber geschlossen ist. Einen kurzen Blick in den Gartenmarkt geworfen, zu dem der Spargelstand gehört. Knallvoll, niemand hält Abstand, außer in der Kassenzone, wo Markierungen auf den Boden gemalt sind. Viele ältere bis sehr alte Menschen, ein Neunzigjähriger befühlt ausgiebig einen Osterhasen aus Ton, unaware of his surroundings. Schnell weitergedüst zu einem Spargelhof, mehrere große Gebäude, vor einem steht „Büro“ und es stehen Erntehelfer davor, sie diskutieren mit jemandem und sehen nicht zufrieden aus. Der Spargelverkaufsraum menschenleer bis auf die Verkäuferin, auch schon über sechzig, sie fasst das Bargeld unbekümmert an, zählt mir die Münzen in die Hand. Ich frage nach den Öffnungszeiten, sie sagt von acht bis acht, jeden Tag, auch an den Feiertagen, wir kommen ins Gespräch. Ganz schön lang sei das für sie, sagt sie, und immer stehen, sie hätte vor einiger Zeit einen Schlaganfall gehabt, bis letztes Jahr hat sie auf einem Imbisswagen gearbeitet, aber sie hätte das mit dem Putzen nicht mehr geschafft, auf die Leiter steigen und dann ganz oben auf dem Grill. Sie sei ja schon älter, aber sie müsse einfach arbeiten, sonst fällt ihr die Decke auf den Kopf, deshalb arbeitet sie jetzt eben hier, und wie gerne ich ihr das glauben würde.

Noch in einen zweiten Supermarkt, das mache ich sonst nie, aber ich bekomme Mehl und Toilettenpapier, und an der Fleischtheke eine richtig gute Beratung und Lammfilets.

Schnell wieder zu meiner Mutter, intensivstes Händewaschen und hoffen, dass ich mich nicht angesteckt habe. Sie kocht den Spargel, ich mache eine Vorspeise und die wohl beste Sauce Hollandaise meiner aktiven Zeit als Freizeitköchin. Die Stimmung meiner Mutter ist leicht gedrückt, sie hat diverse Anrufe und Glückwünsche erhalten, aber nicht alle haben sie erfreut. Ein Bote hat einen Blumenstrauß vorbeigebracht. Die Stimmung meiner Mutter ist oft nicht so gut an Feiertagen, vielleicht ist das so, wenn man Kind war in Trümmerdeutschland. Man spürt die eigene Sterblichkeit stärker, sagt meine Mutter, und es bleibt unklar, ob sie den Geburtstag meint, das Älter werden, COVID-19, oder alles zusammen.

Ich richte weiter ihr iPhone ein, mache dann mit einem Radio für die Küche weiter. Dazu muss ein Kabel hinter den Kühlschrank verlegt werden und am Ende haben wir die halbe Küche auseinander- und wieder zusammengebaut. Dafür ist jetzt die Stolperfalle eines Dreifachsteckers erfolgreich beseitigt und ich sehr zufrieden.

Am späten Nachmittag brechen wir zu einem Spaziergang auf. Ich habe von einem neuen Wanderweg in der Gegend gelesen und hoffe, dass das meine Mutter aufheitert. Sie freut sich vor allem über die Autofahrt. „Hier war ich jetzt drei Wochen nicht mehr“, sagt sie sehnsüchtig, als wir durch den Nachbarort fahren, und es gibt mir einen kleinen Stich, aber dann cruisen wir ein bisschen, als wären wir beide jung und frei von Verantwortung. Nach drei oder vier Dörfern biege ich links ab, fahre den Berg hinauf bis zu einem „Durchfahrt verboten“-Schild und dann noch ein bisschen weiter. Wir parken und laufen los, allerlei Vogelstimmen, Bäume in zartem Grün und weißem Blütenkleid, Löß und Hohlwege, die schmaler und schmaler werden, mit großen Steinbrocken, die Erde ganz trocken. Ich denke daran, wie ich vor ein paar Jahren im Oman war, auch mit meiner Mutter, und wir mit einem Führer in einem Wadi gewandert sind. Es gab da auch viele kleine Singvögel, halbwilde Kamele, Bäume mit spitzen Nadeln, und wir haben Bergadler gesehen. Es fühlt sich an wie aus einem anderen Leben und doch wie genau jetzt.

Es wird Abend, und wir fahren zurück. Den ganzen Tag hat die Sonne geschienen, keine einzige Wolke. Der ganze Tag war ein Flackern zwischen traurig und schön, gedrückt und heiter, Genuss und Scham, Krise und Alltag, Erinnerung und Gegenwart.

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