Dreimal haben sie ihm sein Geschäft kaputtgemacht. Das erste Mal 1919 während der kommunistischen Revolution, dabei war es nur ein kleiner Gemischtwarenladen – Seife, Milch, sauer eingelegtes, Brennholz, Wein – und keine Speerspitze der kapitalistischer Unterdrückung. Sogar ins Lager mußte er, aber er hatte ein Talent im Umgang mit Menschen. „Seid gegrüßt, Genossen!“, soll er gesagt haben, auf ungarisch natürlich, da kam er schnell wieder frei.
Kaum hatte sich das Geschäft erholt, kam die Wirtschaftskrise der Zwanziger Jahre. Aber er war jung und gesund, kaum älter als das Jahrhundert: 1899 geboren. Die Mama war seine Liebesheirat, die Dreißiger Jahre waren eine gute Zeit für sie, in denen nach mehreren Totgeburten vier gesunde Kinder auf die Welt kamen. Wenn sie von ihrer Kindheit erzählen, dann scheint dieses Dorf in der Peripherie von Budapest immer ein kleines Paradies oder doch zumindest eine ländliche Idylle gewesen zu sein. In einer Art Vierkanthof lebten sie in der Großfamilie mit Onkel und Tanten und deren Kinder zusammen. Der Papa war sehr angesehen im Dorf, ein großer, hagerer, ruhiger und bedachter Mann, wenn es Streit gab, wurde er zum Schlichten gerufen.
Vom Krieg hätten sie nicht soviel mitbekommen, erzählen sie. Vom Kriegsende umso mehr. Ein sowjetischer Soldat hat den Hund erschlagen, mit dem Gewehrkolben, damit er keine Kugel verschwendet. Und dann mußten sie gehen. Der Papa hätte wohl noch etwas dagegen unternehmen können, wenn er gewollt hätte, er hatte ja ein Talent mit Menschen und natürliche Autorität. Aber er wollte wohl nicht, wird spekuliert, vielleicht wohl wissend, daß es in den nächsten Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft weder für sein Geschäft, noch für ihn oder seine Kinder eine rosige Zukunft geboten hätte. Die Alternative, wohl doch erzwungen und nicht frei gewählt, war bitter: alles zurücklassen und mit dem Zug nach Süddeutschland fahren, das halbe Dorf in Viehwaggons. In Süddeutschland waren die Vertriebenen nicht willkommen, lebten zunächst bei Bauern, dann in Baracken. Der Bauer, dem meine Familie zugewiesen wurde, hatte, um keine Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, ein Loch in die Wand geschlagen, also lebten sie mit einem Loch in der Wand.
Der Papa wollte kein neues Geschäft, er hatte keine Kraft mehr. Er hat in der Fabrik gearbeitet, seine älteste Tochter, die in Ungarn eine ausgezeichnete Schule besucht hatte, wurde mit fünfzehn Hilfsarbeiterin. Aber sein Sohn – mein Vater – aus dem sollte etwas werden! Priester, wünschte sich die Mama, und wenn nicht, dann wenigstens Lehrer. Und so studierte mein Vater Englisch, Französisch, Geografie. Das Geld war immer knapp. 1960 endlich konnte mein Vater seinem Vater berichten, daß er nun Assessor ist. „Endlich“, hat der Papa gesagt und starb im selben Jahr. Lungenkrebs und wohl auch keine Kraft, zu ausgezehrt von dem Ganzen.
Endlich fertig sein. Endlich fest angestellt sein. Endlich beruflich angekommen sein. Viele Jahre muß das für meinen Vater ein großer Wunsch, ein großes Ziel, ein bestimmender Gedanke gewesen sein. Kein Wunder eigentlich, daß er auch mich antreibt. Projekte abzuschließen, eine feste Stelle finden. Und ich, ich würde auch gerne angekommen sein im Leben: eine schicke Visitenkarte haben, mich mit Geldanlagen beschäftigen zu müssen, weil ich mehr verdiene, als ich ausgeben kann. Meinen Vater bitten, eine Rede auf meiner Hochzeit zu halten, ihm mein Kind in die Arme legen. Aber die Welt hat sich verändert in den fast 50 Jahren, seit mein Vater Lehrer wurde, in den mehr als 100 Jahren, seit mein Großvater geboren wurde. Und wenn wir eines wissen, dann, daß es keine Sicherheit gibt.
Je älter ich werde, desto weniger vorgezeichnet scheint mein Leben zu sein. Ich bin in Bewegung.
„Ich wünsche mir, daß Du Vertrauen in mich hast“, habe ich ihm beim letzten Telefongespräch gesagt. Mir selbst habe ich geraten, ein wenig großzügiger zu werden, mich nicht immer so angegriffen zu fühlen. Auszustrahlen, daß man Vertrauen in mich haben kann.