mein Nachhilfeschüler

Mein Nachhilfeschüler hat neulich zu mir gesagt, er könne sich nichts schlimmeres vorstellen, als dick zu sein.
Ich rührte sprachlos in der Kaffeetasse, die mir seine Mutter jedes Mal bringt, zusammen mit ein paar Keksen aus einer Gebäckmischung, von denen ich ihm einen Moment zuvor noch einen angeboten hatte, weil er beklagt hatte, er habe Hunger und könne sich nicht konzentrieren. Den Keks hat er abgelehnt, denn Kekse machen dick, und dick könne er nicht gebrauchen, es gäbe schließlich nichts schlimmeres, als dick zu sein. Ich bin dick, also nahm ich mir noch einen Keks und sagte dann – pädagogisch wertvoll – daß Dicksein gar nicht so schlimm sei, und daß die Menschen ja auch sehr verschieden sind.
In der Woche bis zu unserer nächsten Nachhilfestunde habe ich viel gegrübelt. Was wollte mir mein Nachhilfeschüler damit sagen? Sehr viel oder gar nichts?
Mein Nachhilfeschüler – er ist gerade achtzehn geworden – hat einige sehr seltsame Ansichten. Mein Nachhilfeschüler lehnt zum Beispiel die farbliche Hervorhebung von Wörtern in einem Text ab. Ich fände es pädagogisch wertvoll, wenn er Dissimilation in rot und Assimilation in grün schreiben würde, aber er weigert sich, und zwar mit der Begründung, das wäre schwul. Schwul sein, Sie haben es sich vermutlich bereits gedacht, ist in seiner Gedankenwelt mindestens genauso schlimm wie dick sein.
Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht schlecht von meinem Nachhilfeschüler. Er ist eigentlich ziemlich süß. Er hat dunkle Haare, einen durchtrainierten Körper und spielt Basketball. Er sieht ein wenig aus wie Donnie Darko. Genauso wie Donnie zieht auch mein Nachhilfeschüler die Schultern hoch, wenn er unsicher ist.

donnie

Ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Ich fühle mich angezogen von meinem Nachhilfeschüler. Jetzt, wo ich selbst eine Lehrerin bin, verstehe ich zum ersten Mal das erotische Verhältnis, daß zwischen Lehrer und Schüler bestehen kann.
Trotzdem bleibt es für mich eklig, eklig und falsch. Ich denke an meinen Englischlehrer, der meine Mitschülerin Katharina gefickt hat. Ich denke an diesen Professor, der die Abhängigkeit seiner chinesischen Austauschstudentin ausgenutzt hat. Es ist nicht richtig, es ist kein Verhältnis unter Ebenbürtigen.
Es täte mir also sehr leid, wenn sich mein Nachhilfeschüler von seiner dicken Nachhilfelehrerin angemacht gefühlt hätte. Wollte er mir das mit seinem Eingangs erwähntem Kommentar sagen? Er braucht sich keine Sorgen machen.
Ich hingegen machte mir Sorgen und starrte so manche Nacht mit offnen Augen in die Dunkelheit.
Es kommt die nächste Nachhilfestunde. Die ganze Zeit über ist mein Nachhilfeschüler hibbelig. Fünf Minuten vor Schluß möchte er gehen, ich hingegen würde lieber noch etwas länger machen, denn er kam ein paar Minuten zu spät. Schließlich sage ich: „nenn‘ mir einen guten Grund, dann lasse ich dich gehen.“

Seine dunklen Augen blitzen mich an, und er sagt:
„Gründe? Sie wollen Gründe? Hier sind meine Gründe: ich spiele Basketball, seit ich denken kann. Ich hab mir nie viel Mühe gegeben, habe immer allein Körbe geworfen, und als ich vierzehn war, war ich so gut, daß ich direkt in die Mannschaft gekommen bin. Dann habe ich mir den Knöchel verletzt, konnte nicht spielen und bin richtig dick geworden. Ich hab‘ ein dreiviertel Jahr gebraucht, um die zwanzig Kilos wieder runterzukriegen, es war die Hölle. Am Wochenende habe ich Probetraining mit der Mannschaft, heute habe ich neue Schuhe gekauft und die will ich jetzt ausprobieren. Sind das Gründe genug?“

Ich sage:“okay. Du kannst gehen.“

Ich sollte mich nicht immer so ernst, so wichtig nehmen, denke ich. Denn die Erwachsenen sind nur Kondensstreifen am Himmel der Jugendlichen. Das ist auch richtig so.

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