anders

Ich bin anders geworden. Es ist, als wären meine Beine steinern mit dem Boden verbunden gewesen, jahrelang, dann rissig geworden, aufgebrochen, wieder Fleisch geworden und ohne daß ichs recht gewollt hätte, habe ich mich bewegt. Ich selbst, ich merke es kaum, daß ich jetzt woanders stehe. Nur wenn mich die altbekannten ruft, dann wundere ich mich und habe Mühe, mich ihnen zuzuwenden. Der Austausch, der früher harmonisch und unkompliziert lief, ist auf einmal holprig und angespannt. Ich werde schnell gereizt, wütend gar, und dann schäme ich mich meiner Wut. Ich möchte gerne berichten, daß ich jetzt woanders stehe, aber ich weiß: ich kann es nicht in Worte fassen, ich wüßte nicht, wo ich anfangen soll. Ein mißgestimmtes Telefonat mit meinen Eltern. Kein Kontakt zu Ruth.
Ich muß diese neue Facette meines Selbst schleifen, einpassen in seinen Rahmen, dann kann ich mich wieder mit meinem gewohnten Gesicht zeigen.

Schade drum. Ich hätte ihnen gerne davon erzählt, wie ich jetzt anders bin.

Brückengedanken

Als ich gestern über die Warschauer Brücke gelaufen bin, hat es in mir geknarrt und geknirscht, aber die Sonne schien warm auf meinen schwarzen Mantel. Ein Mal Ja, vier Mal Nein in diesem Jahr, jedes Nein tut unterschiedlich weh. Das von Reisebegleitung noch nicht mal so sehr.
Ich mag mich kaputt machen, denke ich manchmal, ich mag noch viel, viel mehr Neins hören, mich schlecht behandeln, mich demütigen, mich auslachen lassen. Bis ich kaputt bin, Scherben mit Tesafilm, Körperteile mit Mullbinde zusammengehalten. So werde ich dann, alt geworden, in einer Gartenlaube sitzen, froh, noch einmal davongekommen zu sein.

Lesung: Marcus Hammerschmitt

Wir kamen fast zu spät, Frau Engel und ich, es reichte gerade noch, um einen Gin Tonic zu bestellen (sehr süß: Gin und Tonic wurden getrennt berechnet). Sitzplätze gab es im Club „Ausland“, der mich an einen Vereinsraum oder an eine studentische Fachschaft erinnerte, nicht mehr. Ich zählte etwa 30 Leute, weitere zehn sollten nach und nach noch später als wir kommen und von Marcus Hammerschmitt jeweils mit einem Seitenblick bedacht werden, aus dem wohl weniger Verärgerung als vielmehr eine Unterbrechung seiner Konzentration sprach.
Zunächst las er aus „der Zensor“. Spanien der Zukunft wird von den Mayas beherrscht, gegen deren blutige Herrschaft sich eine Untergrundbewegung gebildet hat. Teil der Guerilla, wenn auch zunehmend zweifelnd, ist Enrique. Seine Zweifel scheinen begründet: in dem Ausschnitt, den Marcus Hammerschmitt uns vorgelesen hat, soll Enrique von einem Mitglied seiner eigenen Truppe ermordet werden. Die schöne und kräftige Stimme Hammerschmitts erfüllt den Raum auch ohne Mikrophon, die Stelle, die er ausgesucht hat, eignet sich hervorragend zum vorlesen: bevor ich mich noch richtig hingesetzt und versucht habe, das alles einzuordnen (Mayas? Nanotechnologie?) bin ich schon mittendrin in der spannenden und dialogreichen Geschichte.
Als zweites las er aus PolyPlay. Die BRD wurde von der DDR annektiert, möglich gemacht hat dies ein schwarzer Freitag an der Börse, die darauffolgende Wirtschaftkrise und ein Jagdunfall Erich Honeckers. In „PolyPlay“ ermittelt Kommissar Krämer wegen eines Mordes im Computermilieu; das Computerspiel PolyPlay scheint eine entscheidende Rolle zu spielen. Es liegt in der Natur der Sache, daß es bei dem Szenario einer umgekehrten Wende viel zu lachen gab. Auch ich mußte lachen und hörte gerne zu, merkte aber auch, daß dies mein Thema nicht ist. Ich gehöre zu den wenigen Menschen, die „Good Bye Lenin“ nicht gesehen haben. Es ist einfach nicht mein Geschmack.
„Reinhold Messner (nicht verwandt, nicht verschwägert) überlebt den dritten Weltkrieg“ lautet der Titel der Geschichte [veröffentlicht in der Anthologie „der Atem Gottes“], die Hammerschmitt als letztes vorlas. „Satire“, sagte Frau Engel; sie liebt es. Dieser letzte Text zeigte eine andere Seite seines schriftstellerischen Könnens.
Ihm zuzuhören war ein Genuß. Sicher, auch er verspricht sich manchmal. Aber ich war beeindruckt, weil er jeder Figur eine eigene Stimme verliehen hat. Die eine Figur spricht er in einem selbstsicheren Ton, die andere läßt er absolut rational klingen, eine weitere ängstlich; und so werden all diese Figuren lebendig jenseits der Worte.
Gerne würde ich etwas über seine Präsenz und Ausstrahlung berichten. Das ist schwierig, weil seine Ausstrahlung vor allem darauf beruht, daß er ganz normal ist. Bescheidenheit ist ein Wort, daß nicht ganz paßt. Es ist keine Bescheidenheit im protestantischen Sinne. Aber Hammerschmitt findet, so mein Eindruck, sich selbst nicht wichtig, er findet seine Geschichten wichtig. Und daraus entsteht der Widerspruch, den ich nicht erklären kann: gerade, weil er sich selbst nicht in den Vordergrund stellt, wirkt seine Präsenz nachhaltig auf die Zuhörer.
In der anschließenden Diskussion erzählte er von seinen Vorbildern [William Gibson], seinen Lieblingsautoren [China Miéville, den ich ganz großartig finden und jetzt weiß ich endlich, wie man ihn korrekt ausspricht: May vill] und daß er „Polyplay“ gerne als Polizeiruf 110 verfilmt sehen würde [ich auch]. Am Ende sagte er ein Wort, daß ich lange nicht mehr gehört habe: Dankbarkeit [für seine Kreativität].

Was die meisten von uns in den Blogs machen, dachte ich, ist eigentlich ziemlich mickrig. Was Hammerschmitt macht, das ist Literatur. Wer liest, so lautet ein Sprichwort, lebt doppelt. Wer schreibt wie Hammerschmitt, kann hunderte anderer Welten mit seinen Worten erschaffen. Was ich mit meinem Blog mache, ist etwas anderes. Ich versuche ja, die Fragmente meines einen Lebens zu beschreiben, wiederzufinden, aneinanderzufügen. Umso schöner, daß ich mich in Hammerschmitts Welten hineinlesen darf, wenn es mir hier zu düster wird. Wir brauchen die Kunst, so lautet ein anderes Sprichwort, um nicht zu verzweifeln.
Es war ein schöner Abend. Ich bin dankbar.

[Bild auf Wunsch wieder entfernt]

Wo bin ich?

Ich bin hier.

250 Tage, das ist nicht unbedingt ein guter Grund für eine Rückschau, aber ein günstiger Anlaß, denn Positionsbestimmungen tun mir immer gut. Gleichzeitig ist es gar nicht so einfach, diese Position zu bestimmen; zu vieles ist ständig im Fluß und läßt sich nur unzureichend beurteilen.
Auf zwei Themen möchte ich mich konzentrieren: auf den Sex und auf den Schwermut.
Sex ist ja nun etwas, das in meinem Leben eher nicht passiert. Nun ergab es sich kürzlich aber, daß ich eine Antwort auf die Frage erhielt, wie es sich zu zweit in meinem Bett liegt: es liegt sich gut. Wir haben viel gelacht, es war sehr einfach. Es hat wenig verändert, zu dem wenigen zählt jedoch, daß ich mir meiner guten Seiten wieder sicherer bin. Es braucht jemand, der sie zum Vorschein bringt, aber sie sind da.
Ich möchte gerne mehr davon, mehr hedonistischen Sex. Hedonistische Arrangements tun nicht weh. Es tut weh, sich zu verknallen, und man weiß vorher nicht, ob das passieren wird, es überkommt einen ja tatsächlich wie ein Knall. Ich sehe da eine gewisse Schwierigkeit, dieselbe Schwierigkeit, die mich auch im Umgang mit dem zweiten Thema belastet. Ich möchte vermeiden, schwermütig zu sein, genauso wie ich vermeiden möchte, mich zu verknallen. Beides sind Gefühle, unkontrollierbar und irrational. Sie zu vermeiden ist nur möglich, wenn man sich dem Leben verschließt.
Ich möchte leben, jetzt, hier, in vollen Zügen. Ich möchte nicht mehr warten, es nicht mehr auf eine Zukunft verschieben, die dann so doch nicht eintritt. Es wird zerbrechliche, papierene Tage geben, und starke, schöne, intensive. „Paß auf Dich auf!“, rate ich mir selbst und denke gleichzeitig: „ach, bitte keine Ratschläge.“

[keine Kommentare]

wo ist Linda?

Die Berliner Woche schreibt:

Schnell fand er [Andreas Göx] heraus, daß es sich bei Linda um keine reale Person handelt. Entstanden in den Köpfen ihrer beiden Protagonisten namens „Lindas Ex“ und „Dr. Robot“. Die wollten mit dieser Aktion die Resonanz auf eine vermeintliche öffentliche Suche austesten und auf diese Weise andere zu Meinungsäußerungen und künstlerischer Aktivität animieren.

Ich bin ein wenig traurig. Und fühle mich ein wenig… für dumm verkauft.
Ich konnte Robot so gut verstehen, wir waren beide manchmal wütend, meistens kläglich, und hin und wieder entstand etwas schönes daraus. Und immer waren wir auf der Suche nach etwas, das es gar nicht gibt.

Trotzdem hier der Hinweis auf die Abschlußausstellung:

Tracing Linda. Museum für Kommunikation, Leipziger Straße 16, Berlin.
mehr über Tracing Linda: Fleshpoint

Veränderungen (2)

Paßfotovergleich: Führerschein (1996), alter Paß (1999), neuer Paß (2004).

1996, noch mit schwarz gefärbten, kurzen Haaren. Mein Gott, denke ich bei Fotos aus meiner Schulzeit immer, ich war hübsch und habe es nicht gewußt.
Ein sehr offener Blick, ein klares Gesicht.

1999, ich sehe aus wie betrunken, wie unter Drogen. Verwirrt. Ein hartes, verwirrendes Jahr, in dem ich nach Berlin gezogen bin, wo es zunächst auch nicht besser war.

2004, ganz glatte, passende Haare. Schöner als 1999, weil ich aussehe wie jemand, der weiß, wer er ist. Gleichzeitig: keine Unschuld mehr, ein ironischer Zug um den Mund, ein Blick mit Schalk in den Augenwinkeln. Man spürt meine kritische Distanz, von der ich manchmal sogar mehr gebrauchen könnte.

Der neue Paß ist gültig bis 2014. Kaum vorstellbar, wo ich 2014 sein werde. Vermutlich mit zwei Buchstaben vor meinem Namen, eher unwahrscheinlich: mit einem anderen Nachnamen und dann wohl auch mit einem Eintrag unter „Kinder“. Wahrscheinlich mit einigen Stempeln im Paß, Arbeitsvisum für die USA?
Die Haare sicherlich kürzer und vielleicht endlich in meiner Naturhaarfarbe. Mehr Fältchen unter den Augen, der Blick? Warm und herzlich? Hart und unsicher? Ablehnend und verlebt?
Wer weiß.

Veränderungen (1)

„Sie haben da was versehentlich fallen lassen!“ rief mir die Frau mit Kinderwagen von der gegenüberliegenden Straßenseite zu. Was sie eigentlich meinte, war: „ich habe gesehen, daß Sie den Zettel unter ihrer Windschutzscheibe einfach auf die Straße geworfen haben. Ich finde das nicht in Ordnung! Heben Sie das auf!“.

Ich habs nicht aufgehoben, ich habe nichts gesagt, nur kurz ironisch die Augenbraue hochgezogen.

Wir waren alle bessere Menschen, bevor wir nach Berlin gezogen sind.