Nicht-Orte

Ziemlich genau am ersten Junitag hatte ich so ein „jetzt oder nie“-Gefühl und habe kurzentschlossen eine Woche in einem Ferienhaus mit Pool am Mittelmeer für meine Mutter und mich gebucht. Mietwagen dazu, Flug, Reiserücktrittsversicherung, fertig. Es war schon absehbar, dass die Inzidenzen fallen und mein eigener Impfschutz vollständig sein wird, es war ebenso absehbar, dass es einen großen Ansturm auf Urlaubsreisen in den Sommerferien geben wird. Ich habe mir keine großen Gedanken gemacht, wohin wir fahren, Hauptsache EU, warm, und notfalls auch mit dem Auto zu erreichen.

Jetzt sind wir hier, es ist schön, wir baden viel und ich habe mir in den ersten zwei Stunden nach Ankunft direkt einen Snnenbrand geholt. Worauf ich aber eigentlich hinaus will: ich kannte von dem Haus nur die Fotos im Internet und las irgendwo den Satz, dass es sich in einer Ferienhaussiedlung befindet. Zu meiner Überraschung ist die Ferienhaussiedlung riesig, 800 Hektar habe ich vor zwei Minuten extra für diesen Blogeintrag recherchiert, darunter kann sich natürlich niemand etwas vorstellen. Nach zehn Minuten Autofahrt ist man immer noch in der Siedlung.

Die Siedlung selbst ist gar nicht schlecht gemacht, so architektonisch und planerisch. Es ist alles eher zersiedelt, mit großen mediterran bewachsenen Flächen und immer wieder sehr felsigen Abschnitten. Die Häuser sind alle im ähnlichen Stil gehalten, so sehr, dass es einen manchmal oientierungslos zurücklässt. Dabei gleichen sich die Häuser kaum – es gibt große und mittelgroße Häuser mit Pool, Reihenhäuschen und kleinere Apartments ohne Pool, auch zwei oder drei Gemeinschaftsanlagen und hotelähnliche Häuser. Es ist aber alles in der gleichen oder ähnlichen Farbe gehalten, es werden die gleichen Steine für die Einfahrten benutzt, in allen Vorgärten wachsen Oleander, Lorbeer und Olivenbäumchen, und es scheint eine häufig vorkommende, einheitliche Form der Gartentörchen zu geben.

Entgegen meiner Erwartung ist die Ferienhaussiedlung nicht überfüllt, ganz im Gegenteil. In unserer Straße sind noch zwei weitere Häuser bewohnt. Bei unseren abendlichen Spaziergängen haben wir noch weitere bewohnte Häuser entdeckt, denn die Menschen sitzen abends auf der Terrasse, unterhalten sich, speisen und genießen die im Meer untergehende Sonne. Hin und wieder fährt ein Auto vorbei, aber der Großteil der Häuser steht leer.

Wir beklagen dies nicht, wir genießen die Ruhe. Mich würde aber aus reiner Neugier interessieren, ob es hier immer so ist? Geht es erst Mitte Juli und vor allem im August los, wenn die meisten Länder Sommeferien haben? Liegt es an der Ausreisesperre für die Briten? Ist dieser Urlaubsort im Niedergang?

Es gibt zu diesem Ort kaum Informationen. In den verschiedenen Reiseführern höchstens ein, zwei Zeilen, vor allem zum Stand. Auf Wikipedia ein recht schmaler Artikel. Im Internet Häuser zum Verkauf.

Vor nicht allzu langer Zeit haben ich von dem Konzept der Nicht-Orte gehört. Nicht-Orte sind Räume ohne eigene Identität, ohne Geschichte, ohne Bedeutung, in denen Menschen keine tiefe Beziehung zueinander aufbauen. Beispiele für Nicht-Orte sind Einkaufszentren, Krankenhäuser, Flughäfen, Autobahnen, Züge, Hotels und Supermärkte. Nicht-Orte sind künstlich bis hin zu einem Punkt, an dem Natur gänzlich ausgeschlossen wird, keine Erde, kein Sonnenlicht, keine Tageszeit. Der Aufenthalt dort ist durch Eintritts- oder Austrittsrituale gekennzeichnet, das Einchecken oder das Bändchen am Arm des Patienten. An den Nicht-Orten werden die Menschen anonymisiert und vereinheitlicht, sie werden losgelöst von ihrer Identität oder Rolle und bekommen eine neue Rolle zugewiesen: Pendler, Shopper, Kunde, Reisende, Urlauberin.

Nicht-Orte werden nicht von allen als solche erlebt, wer zum Beispiel am Flughafen arbeitet, baut dort sehr wohl tiefe Beziehungen zu Kollegen auf, und verbindet mit dem Ort eine Geschichte, und Jugendliche treffen ihre Freunde in Einkaufszentren und geben einem solchen Ort eine Idenität un Bedeutung.

Mir scheinen sie oft vorzukommen, diese Nicht-Orte, in meinem Blog und in meinem Leben. Ich beobachte sie gerne mit einem Lächeln und einen Staunen. Ich liebe den Flughafen und ein bisschen auch die Autobahn. Ich mag die besondere Stimmung, die an Nich-Orten manchmal entsteht, zum Beispiel im Supermarkt während eines bedeutenden Fußballspiels, wie ein Land, das kurz auftaucht, ehe es im Meer untergeht.

Ich empfinde auch die Anonymisierung eher als Spiel, und ich mag die Rituale, die beim Rollenwechsel helfen. Ich mag gerne schreiben, dass es daran liegt, dass ich in meiner identität so fest verwurzelt bin, dass ich auch an einem Nicht-Ort ich selbst bin, nur ein bisschen freier von den Erwartungen der anderen, von den eigenen Erwartungen. Unsichtbar auf eine gute Art. Das ist nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch.

Ich mag auch diesen Nicht-Ort recht gerne, was für ein Zufall, dass ausgerechnet ich hier Urlaub mache – oder vielleicht doch gar kein Zufall? Ich habe eine überraschend große Menge Fragen zu all dem, aber noch nicht viele Antworten.

im Kanal

Seit einigen Wochen Probleme mit der Kanalisation, mal mehr, mal weniger. Erst stand das Wasser vor dem Haus, dann immer wieder in einem Kellerraum. Dort verläuft ungefähr auf Brusthöhe ein Abwasserrohr, ziemlich dick, eher neu, in das nachträglich ein kleiner Abfluss eingefügt wurde. Dies ist die Schwachstelle, dort tropft es raus, dringt manchmal mit Kraft nach draußen. Dann wieder ist der Kanal ganz leer.

Ich habe viel dazugelernt in letzter Zeit. Welcher Abfluß im Haus in welches Rohr mündet. Mit welcher Technik sich die Wasserlache am besten aufwischen lässt. Wieviel Wasser die einzelnen Wasseranschlüsse produzieren, wie es aussieht und wie es sich anhört. Ich lag mit Francine auf dem Bauch im Hof und habe in den Gully geguckt. Ich habe Fotos und Videos gemacht, ich habe mit der Vorbesitzerin gemailt. Seltsame Männer kamen, haben ihre Kamera in alle Öffnungen gesteckt, nichts dokumentiert und mehrere Hundert Euro in Rechnung gestellt. Nachbarn haben sich interessiert, Matthias von der Kommunalen Abwasserwirtschaft kam vorbei.

Im Stillen interessiere ich mich ein wenig für die Kanalisation. Als Kind habe ich einmal einen Animationsfilm gesehen, der Kanalligator. Es gibt davon kaum Spuren im Netz, dieses Buchcover allerhöchstens, aber es war ein sehr künstlerischer Film, keinen oder kaum Dialoge, ich bin mir nicht sicher, ob es ein gutes Ende hatte, aber es hatte etwas andersweltliches.

Seitdem mag ich die Kanalisation, so wie ich auch den Regen mag. Tropfen, die sich zu einem Rinnsal vereinigen, ein kleiner Strom, der irgendwo hinfließt, zielstrebig. Hinunter. Und dann verschwindet, in dieser Anderswelt aus Gullideckeln und Staßenabläufen, wo sich Bäche und Flüsse formen, vereinigen zu großen Strömen, auf denen Boote fahren, Krokodile schwimmen, und Dinge passieren, von denen wir hier oben keine Ahnung haben. Es ist ein Mythos, dass eine andere Welt in dieser existiert, aber sie erscheint mir manchmal doch zum greifen nah, wenn es regnet, oder ich falsch abbiege, in der Dämmerung, mich wie ein gerade so geduldeter Gast fühle, der hier nicht hinpasst, und doch voller Staunen bin – einen Moment nur, ehe ich zurückkehre.

In der harten Welt des E. coli-haltigen Abwassers gibt es wenig, was mir so viel Druck macht. Ein Abwasserproblem zwingt zum unbedingten und sofortigen Handeln. Wie werden demütige Bittstellerinnen bei Kanalsanierungsunternehmen, Tiefbauern, und den Stadtwerken. Wir diskutieren, ob wir den Hof aufreißen müssen. Ich führe Telefonate, die ich sonst unendlich aufschieben würde, verschiebe Termine, die sonst unantastbar wären, fertige Skizzen an, liege mit Taschenlampe auf dem Boden und schaue in seltsame Öffnungen.

Ich hasse es, diese Art von Druck zu haben. Ich bin müde, immer eine Erwachsene sein zu müssen, unangenehmes tun, mich zusammenreißen, freundlich bleiben. Nur weil ich es tragen kann, heißt es nicht, dass es nicht schwer ist.

Es ist eine große Gnade, dass ich auch einen zarten Zauber in all dem sehen kann.

im Büro

Heute im Büro gewesen. Frau Novemberregen bewirbt ja das physische Arbeiten in den Büroräumen des Arbeitgebers und hasst – für sich persönlich – das Arbeiten im Home Office. Sie ist vor einigen Tagen dauerhaft wieder ins Büro zurückgekehrt und seitdem eine deutlich entspanntere Version ihrer Selbst. Wir haben heute ein wenig gerätselt, woran es liegt. Das Offensichtliche, nämlich die auch in den breiten Medien häufig thematisierte einfachere Trennung zwischen privatem und beruflichen – ist es auch, aber es gibt noch etwas darüber hinaus. So ganz fassen konnten wir es noch nicht.

In meinem Lieblingsbuch, The city and the city von China Mieville, existieren zwei kulturell und sprachlich total unterschiedliche Städte räumlich nebeneinander, gar ineinander. Diese Straße in der einen Stadt, die nächste in der anderen, ein Park, der von beiden genutzt wird. Die Bewohner haben gelernt, sich gegenseitig zu ignorieren, the unseeing, die flüchtigen Bilder der anderen Stadt ungesehen zu machen. Wollen sie sich gegenseitig besuchen, müssen sie ganz offiziell ein Visum beantragen, in die andere Stadt reisen, die Grenze überqueren. Sie betreten einen Bahnhof auf der einen Seite, durchlaufen eine Art von Passage, und kommen auf derselben Seite wieder hinaus, sind aber auf einmal in der anderen Stadt. Sie können sehen, was vorher ungesehen war.

Vielleicht brauchen wir auch solche Rituale: duschen, Haare stylen, Bürokleidung, Berufsweg, ruckelnde S-Bahn oder der morgendliche Stau, im Pulk mit Einwegkaffeebechern in der Hand von Aufzügen verschluckt und an Schreibtische befördert zu werden, wo wir dann in dieselben Monitore und Progamme schauen wie zuhause, in dieselben Tastaturen hacken wir im Home Office, und doch ist es anders, und wir sind andere.

Ich selbst glaube von mir, fast überall arbeiten zu können. Doktorarbeiten, die auf den Deckeln von Zentrifugen in Laptops von Lidl getippt werden, Calls, die mit Headset am Straßenrand geführt werden, jemanden beim Businesslunch zwischen Hauptgang und Espresso um zwanzigtausend runterhandeln. Am besten arbeite ich tatsächlich mit zwei Bildschirmen, oder nur, indem ich zuhöre. Aber was weiß man schon von sich selbst, außer, dass es einen blinden Fleck gibt, wahrscheinlich.

Ich brauche jemand, der mir zuarbeitet und der mich entlastet. Ich habe Sorge, dass es mir nicht gelingen wird, eine geeignete Person zu finden. Frau N. meint, ich suche nach jemanden, der so ist wie ich – und dann natürlich Karriere machen und schnell weg sein wird. Vielleicht lieber jemand, der motiviert und auf Zack ist, ausbilden? Und immer die Frage, was ich selbst und das doch sehr unique Unternehmen, für das ich arbeite, zu bieten hat.

Jedenfalls – Büro. Ich gehe gerne hin, bin gerne die, die ich im Büro bin. Gibt auch immer recht viel positives Feedback. Mache ich vielleicht demnächst öfter. Ob die Haltung von Frau N. subtil auf mich abgefärbt hat?

Es gibt jetzt gerade noch einen weiteren sehr guten Grund, wieder öfter ins Büro zu gehen:

Es ist klimatisiert.

zum Nachlesen

Zwei Wochen nichts geschrieben, es fehlt niemanden, aber wir machen das hier ja nur für uns selbst. Und fürs Archiv, zum Nachlesen. Bei Frau Novemberregen nachgelesen, was sie vor fünf Jahren gemacht hat. Ziemlich viele Parallelen: vor fünf Jahren schrieb sie über ihren Balkon, gerade grillt ihr Mann und reicht ihr Würstchen an. Vor fünf Jahren schrieb sie darüber, dass sie nicht zuhause arbeiten kann. Heute macht sie es, sie kann es, aber es gefällt ihr nicht. Vor fünf Jahren schrieb sie über Lebensmittelkisten, heute hat sie eine halbe Kuh geliefert bekommen.

Ich habe im Juni 2016 nichts geschrieben. Es war aber das bislang vielleicht glücklichste Jahr in meinem Leben.

Heute vor etwas weniger als einem Jahr habe ich über 2030 geschrieben. Weil mein Weblog down war, durfte ich sogar bei Novemberregen bloggen. Und ich habe – genauso wie heute – ins Archiv geschaut. Gestern hatte ich ein interessantes Gespräch mit dem Head of Llama, vor einem Jahr auch. Ich habe ihn ein bisschen lieb, den Head of Llama. Gestern habe ich ihm ein klein wenig Rat gegeben, ich möchte nämlich, dass er noch mehr Karriere macht. Zerbrechlicher Moment zwischen uns, es ist da etwas sehr zartes in ihm, da muss ich sehr, sehr vorsichtig sein. Ich hoffe, dass ich es war.

Ich selbst mache mir heute wie auch vor einem Jahr Gedanken über meinen weiteren Weg in meiner Organisation. Ein ganzes Stück bin ich schon gekommen, seit 2016 sowieso, aber im letzten Jahr erst recht. Ich sitze fester im Sattel, und das System so ausgerichtet, dass es für mich noch weitergeht, aber es fehlt eine Zündflamme, ein Anstoss. Ich bin sehr gespannt, was ich nächstes Jahr darüber schreiben werde.

Who am I and what is my work? Das ist mir jetzt klarer. Man weiß nie genau, was kommt, und wie es weitergeht. Meine Unsicherheit gerade ist weniger, dass ich nicht wüsste, wer ich bin und was ich kann. Ich bin mir unsicher, was ich will und was ich bereit bin, dafür zu geben.

Man weiß nie genau, was kommt, und wie es weitergeht. Plötzlich werden die Karten neu gemischt, jemand geht, jemand anderes kommt, die Macht verschiebt sich, ein Windhauch irgendwo, oder eine Pandemie. Ich versuche, es zu nehmen, wie es kommt, mir selbst und dem System nicht so viel Druck zu machen, bis es irgendwo hinter einer Dichtung hervorspritzt und der Keller vollläuft. Es gibt vieles, was ich mit meinem Leben machen könnte, mit meiner Zeit, und sehr vieles, das mir Freude macht.

Eine kleine Ratlosigkeit bleibt. In einem Jahr bin ich wieder etwas klüger.