Der Garten meiner Mutter ist sehr schön. Sie wohnt hier seit ein paar Jahren, aber der Garten isz viel älter. Es gibt Weinreben, einen Pfirsichbaum, Himbeeren, und jeder Menge Sträucher und Stauden. Kein Rasen, sondern ein mediterraner Bauerngarten (Zucchini!), den vor ihr jemand mit großer Liebe angelegt hat, und den sie mit ebensolcher Liebe wieder freigelegt hat. Dazu gehört auch ein Nebengebäude, es könnte einmal eine große Garage gewesen sein oder eine kleine Werkstatt, vielleicht auch ein Stall für Geflügel oder Hasen. Als meine Mutter eingezogen ist, hat sie so einige Renovierungsarbeiten durch einen etwas schrulligen polnischen Handwerker machen lassen. Dabei wurde auch das Nebengebäude neu gefliest, gestrichen und unter den Dachbalken eine Rigipsdecke eingezogen.
Eines Tages entdeckte sie an der Rigipsdecke einen gelben Fleck. Es sah verdächtig nach Urin aus. Meine Mutter dachte gleich an einen Marder, mir kam das sehr exotisch vor. Dass es ein Marder sein könnte, machte meine Mutter an den Kackwürstchen fest, die sie regelmäßig vor ihrer Haustür oder vor ihrem Auto fand. Wir begannen eine mehrere Wochen andauernde Kackwürstchendiskussion, in die dann auch noch die Nachbarn reingezogen wurden. Katze oder Marder? Es wurden Kackwürstchenbilder per WhatsApp ausgetauscht, und gerätselt.
Dann die erste Mardersichtung. Meine Mutter sah ihn quer durch den Garten flitzen und im Dach des Nebengebäudes verschwinden. Ein paar Tage später begegnete mir draußen auf der Straße etwas, das irgendwie nicht wie eine Katze aussah, und im Vorgarten quer gegenüber verschwandt.
Es begann eine große Diskussion, wie der Marder vertrieben werden könnte. „Der Marder muss weg!“, sagte meine Mutter, und ich kaufte einen Anti-Marder-Duftstein bei Amazon. „Der Marder muss weg!“, sagte meine Mutter, und ich kaufte ein Marderspray bei Amazon. „Der Marder muss weg!“, sagte meine Mutter, und ich kaufte eine Marderfalle (lebend!) bei Amazon. Abends befüllten wir die Marderfalle mit rohem Ei, Honig, Trockenfrüchten, Joghurt, und Marder-Lockstoffen. Am ersten Morgen befreite ich einen sehr indigniert guckenden Igel. Danach nichts mehr. Wir versuchten es mit Katzenfutter, fingen aber weder einen Marder noch eine Katze.
Ich stellte eine Wildkamera auf, obwohl es dafür eigentlich keinen Grund gab, wir hatten ja beide den Marder gesehen. Ich redete mir ein, dass Wildbeobachtungen im Garten meiner Mutter ein gutes Lockdown-Hobby sein könnte. Im Grunde brauchte ich wahrscheinlich einen wissenschaftlichen Beweis, dass es wirklich ein Marder ist.
Jedenfalls, hier ein leicht verschwommenes Bild des Kackwurstproduzenten:
Lebendfalle (schmaler Kasten an der linken Seite) wurde leider weiterhin ignoriert.
„Der Marder muss weg!“, sagte meine Mutter und kaufte auf Amazon ein Ultraschallabschreckgerät. Der Marder blieb.
Ich führte derweil viele Gespräche über den Marder, nicht nur mit meiner Mutter, auch mit anderen ehemals oder aktuell Marderbetroffenen. „Immerhin ist es euer Marder“, sagte AF Friedenau, „wer weiß, was danach kommt?“. Die richtigen Probleme entstehen ja eigentlich erst, wenn ein neuer Marder kommt, der sich von den Duftresten des alten Marders gestört fühlt, und dann überall hinpinkelt und die Kabel im Auto durchbeißt.
Es ist jetzt einiges an Zeit verstrichen, meine Mutter hat sich anderen Themen zugewandt. Ich habe das To-do „Marder“ noch auf meinem Whiteboard stehen. Vielleicht wische ich es weg, lasse das Problem aus dem Vordergrund in den Hintergrund verschwinden. Wo es einmal einen Marder gibt, wird es immer wieder einen Marder geben. Es sei denn, meine Mutter asphaltiert ihren Garten und reisst das Nebengebäude ab.
Irgendwie gefällt mir ja auch der Gedanke, dass der Marder sich an dem Garten erfreut, die Beeren schnabuliert, den Spatzen Eier aus dem Nest klaut, und sich mit den Katzen kloppt, während die Nachbarschaft am späten Abend vor dem Fernseher oder den digitalen Endgeräten sitzt. Ich will jetzt nicht sagen, „wir müssen lernen, mit dem Marder zu leben“. Das klingt zu sehr nach Pandemie, und ich glaube, dass COVID-19 eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist, der wir uns stellen müssen.
Aber im kleinen, im Alltag und im Leben, da gibt es – meine ich – Probleme, die bleiben. Manchmal lösen sie sich von selbst, manchmal verschwinden sie in den Hintergrund unserer Wahrnehmung. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist manchmal kleiner und manchmal größer als wir glaubten.
Wir wissen es nicht. Wir können manchmal nichts sinnvolles dagegen tun.
Das ist die Lektion des Marders.