am Straßenrand

Ein Frühlingsabend war das heute, wie aus dem Lehrbuch. T-Shirt-Wetter, aber noch nicht heiß. Sehr helles Licht, besonders, weil ich etwas früher als sonst aus dem Büro nach Hause gefahren bin.

An der roten Ampel stehe ich und warte, und sehe ein junges Paar, vielleicht Mitte zwanzig. Sie hat ein Fahrrad dabei, er einen großen Rucksack auf dem Rücken, er könnte von einer Reise zurückgekommen sein oder auch einfach nur aus dem Fitnessstudio. Er ist nicht übermäßig muskulös, aber durchaus sportlich, man würde ihm aber auch zutrauen, gelegentlich Belletristik zu lesen. Die junge Frau trägt eine gestreifte Hemdbluse, die ihr sehr gut steht. Sie ist keine Schönheit im klassischen Sinne, dafür fehlt es ihren Gesichtszügen an Symmetrie, aber es geht ein Leuchten von ihr aus. Die beiden stehen sehr nah beieinander, ich frage mich, ob sie sich gleich küssen werden, und dann tun sie es. Schnell und ein bisschen verstohlen auf den Mund. Dann schauen sie sich an, lächeln beide, reden. Er zieht sie mit seiner Hand in ihrem Nacken zu sich, küsst sie wieder. Sie lächeln wieder beide und reden, küssen sich noch einmal und noch einmal. Ich mag die Art, wie das Küssen von der jungen Frau ausgeht, wie sie ihn einlädt, subtil und doch unmissverständlich, durch die Haltung ihres Gesichtes, ihre Körpersprache. Dabei hält sie die Hände bei sich, vielleicht, weil sie ihr Fahrrad festhalten muss. Ich bin mir nicht sicher, ob es für die beiden ihr erster Kuss ist als Paar, ob sie sich gerade eben zueinander bekannt haben, oder ob sie sich schon vorher geküsst haben. Allzu viele Küsse hat es noch nicht gegeben, es ist alles neu zwischen ihnen. Verzaubert. Man ahnt, wie süß es schmeckt.

Die Ampel wird grün, ich fahre weiter. Als ich das nächste Mal anhalte, fällt mein Blick auf eine Pflanze, immerhin schon so hoch wie ein kleiner Hund, und kräftig. Sie hat sich zwischen dem Rinnstein und dem Beton einen Weg gesucht, und wächst da jetzt, und gedeiht.

So ist es ja auch manchmal mit den Menschen.

Grief is like that sometimes

Seltsam, dass ich meinen Vater meistens an den schönen Tagen vermisse, und nicht an den schlechten. Ich wünschte, du wärest hier. Es würde dir gut gefallen, jetzt gerade, hier.

Ich vermisse ihn nicht „an den meisten schönen Tagen“, sondern, wenn ich ihn vermisse, dann meistens an einem schönen Tag.

Es sind jetzt sieben Jahre. Wenn man jemanden geliebt hat, hört man nie auf, ihn zu vermissen. Das Vermissen wird aber weniger, vor allem nach dem ersten Jahr, es stabilisiert sich auf einem Niveau, das man wohl „gelegentlich“ nennen könnte. Es wird süßer, melancholischer, ein feiner dunkler Faden in dem Stoff, aus dem der Alltag gewebt ist.

Resonanz

Vom Soziologen Hartmut Rosa stammt das Konzept von “Resonanz“, er versteht darunter eine Antwortbeziehung mit der Welt. Mir gefällt der Begriff Antwortbeziehung sehr: in Kontakt treten mit der Welt, und die Welt antwortet, Schingungen entstehen, Vibes, und in dieser Antwortbeziehung verändert die Welt uns, und wir die Welt.

Depression, sagt Hartmut Rosa, das ist, wenn diese Antwortbeziehung gestört ist. Wenn wir nicht mehr in Kontakt treten möchten mit der Welt, uns nichts mehr interessiert, nichts mehr schwingt, alles flach und öde. Oder noch schlimmer: wenn wir in die Welt hineinrufen, laut und verzweifelt sogar, und keine Antwort erhalten. Nur eine tiefe, schwarze Leere.

Ein Merkmal von Resonanz ist, dass sich die Antwortbeziehung nicht kaufen lässt. Sie kann nicht hergestellt werden, nicht fabriziert werden, denn sie ist nicht künstlich. Wir können Situationen schaffen, die das Eintreten von Resonanz wahrscheinlicher machen, doch es gibt Elemente, die sich unserer Kontrolle entziehen. Es geht nicht anders, es muss so sein.

Ein Beispiel für Resonanz sind Musikkonzerte. Wenn Resonanz gelingt, dann genießen wir das Konzert, wir hören die Musik nicht nur, wir spüren sie sogar. Alles ist Gegenwart und Augenblick. Wir sind ganz bei uns selbst, und doch verbunden mit allen. In Schwingung.

Wer regelmäßig auf Konzerte geht, weiß: es kann ein großartiger Abend werden, oder ein schrecklicher. Es gibt keine Garantien.

Jedenfalls: ich bin gerade im Urlaub, und das Ferienhaus gefällt mir nicht. Ich nehme das auf eine Art persönlich, die ich noch einmal genauer analysieren sollte, aber vielleicht nicht jetzt, denn jetzt tippe ich auf einem zerkratzen Nachttisch, auf einem Bett sitzend, das ich selbst* mit häßlicher, unappetitlicher Bettwäsche beziehen musste, und die Nachttischlampe funktioniert nicht.

Ich kann so nicht arbeiten.

Ich arbeite aber hart daran, meinen Groll gehen zu lassen. Denn ich will offen bleiben für alles schöne, das noch passieren kann in diese Woche, wahrscheinlich dann, wenn ich es am wenigsten erwarte.

*) es war meine Mutter

im Würfelbecher

„Soll ich etwas trauriges schreiben, oder etwas heiteres?“

Wenn man sich nicht entscheiden kann, und eine Münze wirft, erkennt man häufig im Moment des Wurfes, wenn scheinbar alles in der Luft hängt, was man wirklich will und braucht.

Ein paar Mal geweint in den letzten Tagen, wegen Emma, dabei kannte ich sie gar nicht so gut. Sie war sehr wollig, eine Explosion von Fell, ein sehr runder Po, zwei ausgesprochen kleine Ohren. Sie hat sich gerne von mir streicheln lassen, sich mit Gewicht gegen mich gestemmt, um den Körperkontakt zu maximieren, hat manchmal ihren großen Gefühlen mit Lauten Ausdruck verliehen. Es war nichts böses in ihr, oder ich habe es nicht gesehen, nur diese große Zugewandtheit, und eine beschwingte, aber stille Neugier, wenn sie durch die Straßen und Parks lief.

Ich habe sie vielleicht eine Handvoll Male getroffen, über zehn Jahre verteilt oder mehr. Es waren sehr schöne Begegnungen, in jenem Zauber von Berlin, den die Stadt über die Besucher und Reisende legt.

Ich möchte keinen Hund mehr, oder ein anderes Haustier, weil es mir das Herz bricht, wenn sie gehen, oder wenn sie leiden. Vielleicht später einmal, denke ich dann, aber jetzt erscheint es mir unerträglich, unzumutbar, ein klares Nein! wie so oft, wenn es um die Liebe geht. Als müsste ich mein Herz um jeden Preis schützen. Dabei ist mir doch gar nichts schlimmes passiert, denke ich, und wundere mich, und frage mich, ob ich mich irre, in die eine oder in die andere Richtung.

Die Stadt der Banken war sehr schön heute, warm und frühlingshaft. Ich bin mit dem Auto zu Frau Novemberregen gefahren, und die Stadtteile klappten sich auf und dann wieder zu: der Fluß, die Museen, das angesagte Ausgehviertel, sich windende Straßenbahnen, häßlich werdende Wohnblöcke, in die müde Menschen zurückkehren, ein Waschsalon, eine Stadtgrenze, Baustellen und plötzlich ein Park.

Ich schlafe schlecht, seit ein paar Tagen schon, zweimal ein Alptraum, glaube ich, und viele Unterbrechungen. Morgens früh wach. Heute mal den Nüchternzucker gemessen und unzufrieden gewesen. Es wird auch wieder besser werden.

Alles andere – sofern wir die Weltpolitik ausblenden – ist gut gerade. Ich bin mir meiner Privilegien bewusst und genieße sie.

Ich bin gerne unterwegs, und komme am meisten zur Ruhe, wenn ich gerade zwischen zwei Punkten bin.