Dort, wo ich aufgewachsen bin, heißt es Fasching, und nicht Karneval. Auf dem dritten Programm (von drei) lief dann stets den ganzen Tag enthusiastische Berichterstattung über kilometerlange Umzüge voller Fratzen und Tiergestalten. Sehr enttäuschend für mich, Internet war ja noch nicht erfunden, wobei mir im Rückblick nicht ganz klar ist, was ich eigentlich hätte sehen wollen. Spaghettiwestern?
Mit sechzehn, so etwa, vielleicht auch siebzehn, war die Zeit der Faschingsparties. In Turnhallen, auf dem Boden noch jene rätselhaften Sportmarkierungen und Linien. Eine Freundin hatte mich mitgenommen, Anna, und ihr Cousin gab Sekt aus. Ein erster Schwips, und draußen mit jemandem geknutscht, kann aber auch Silvester gewesen sein, sie verschwimmen alle so in der Erinnerung, diese Feste, diese Turn- und Mehrzweckhallen.
Wohl ein Jahr später war ich wunderschön, aber ich wußte es nicht. Ein schwarzes Kleid, zum letzten Mal eine Taille, ein tiefer Ausschnitt, meine Brüste wie immer spektakulär. Eine rote Federboa, und Punkte um die Augenbrauen wie Björk im Video zu Possibly Maybe (es gab nämlich endlich Kabelfernsehen, und MTV). Ein junger Mann, Ziegenbart wie Layne Staley, macht mir ein Kompliment, und wird für kurze Zeit mein erster Freund.
Später im Studium, Berlin schon, habe ich mich noch einmal verkleidet. Schwarzer Rock, schwarze Bluse, die Lippen knallgrün, und Elektronikteile aus einem Telefon (Festnetz!) als Schmuck. Matrix, Trinity. Doch es wohnte eine große Unsicherheit in mir, spürbar auch für andere, und ich konnte nicht festhalten, was ich mir gewünscht hatte.
Zwei Dekaden später. Im Büro wollten sie in den Vorjahren eigentlich nur Kreppel essen, aber wir sind gewachsen, neue Leute, neue Gesichter, und die Frage: dürfen wir uns verkleiden?
Wir lockern die Kleiderordnung, und am Morgen entscheide ich mich recht spontan gegen meine Dienstagshose und für eine, die ein bisschen flippig ist. Dazu trage ich – versehentlich auch im Personalgespräch – Hasenohren.
Ein schöner Tag, gelöste Stimmung, und jede Menge kreativer Kostüme an der Grenze zwischen Business Casual und Kostüm.
Am Abend – die interessanten Dinge in meinem Arbeitsleben passieren beinahe ausnahmslos erst nach 17 Uhr – sitze ich im Büro des Geschäftsführers, mit ihm und mit seinem Stellvertreter. Es ist ein schönes Büro, groß natürlich, lichtduchflutet, mit Blick auf historische Gebäude und andere Bankentürme. Die beiden streiten sich nicht, aber sie sind unterschiedlicher Meinung. Sie sprechen weniger miteinander als vielmehr mit mir über sich und den jeweiligen anderen. Ich habe gar keine Meinung, und denke kurz, dass ich einfach gerne gesagt bekommen würde, was zu tun ist, um das dann zu exekutieren. Ich denke das und weiß doch, dass ich es eigentlich hasse, so zu arbeiten. Kurz blitzt in mir die Erinnerung auf an die Turnhallen, an mein früheres Selbst, und ich frage mich verwundert, wie ich von dort nach hier gekommen bin. Als hätte ich statt einer falschen Abzweigung eine richtige genommen.
Hier müsste eine Pointe stehen, über Fasching und Verkleiden. Ich warte auf die Pointe, aber es gibt keine. Und doch scheint es mir so, als ob etwas wichtiges in diesem Moment gestern Abend liegt, in meinem Gefühl, leicht genervt, ohne ganz zu verstehen, was meine Rolle ist, aber doch so viel Bedeutung zugemessen bekommen, sich doch so sehr verbunden zu fühlen mit all dem, was meine Arbeit ist.
Ein Staunen in mir. Möge es sich mir entschlüsseln, irgendwann.