der Balanceakt

Warten ist das, was ich am allerwenigsten gut kann. Warten ist, was du von mir verlangst, worum du mich bittest.
So bleibt alles in der Schwebe, und nicht einmal das ist gewiß.

Und jetzt? Geht man jetzt einfach zum Tagesgeschäft über?
Jeder Buchstabe, den ich tippe, beeinflußt die Balance zwischen uns, weil du ihn liest. Dann wieder denke ich, daß ich mir etwas vormache, daß es dumm von mir ist, an die paar Prozent Restchance zu glauben. Alle Geschichten von Frauen, die auf Männer warten, gehen schlecht aus, das macht mir wenig Hoffnung.

Ich warte drauf, ob du in mir erlischt. Mein altes Leben paßt mir wie ein Handschuh, keine Lücke, wo du mir fehlen würdest. Nur morgens, zwischen Traum und Wachen, glaube ich oft, du würdest neben mir liegen. Ich denke, was ich immer denke, wenn ich dich sehe: was für ein schöner Mann du bist mit deinem sprödem Charme.

Warum dies hier aufschreiben? Du wirst es nicht gerne lesen, es wird dir zu viel distanzlose Nähe sein. Wir kennen uns kaum, du weißt so wenig über mich, ich kann dich so schwer einschätzen, und das Warten trägt nicht dazu bei, daß wir uns besser kennenlernen. Wahrscheinlich sinken unsere Restchancen mit jedem Buchstaben, den ich tippe und den du liest.

Warum also? Weil in mir Kräfte ziehen und zerren: all diese Schattierungen von Grau zwischen dich aufgeben und mich in dich hineinstürzen. Im Sublimieren war ich nie besonders gut. Wie schaffst du das eigentlich? Mir bleibt nur das Schreiben, um die Dinge ein wenig zu ordnen, um ein wenig Druck zu verlieren. Natürlich ist auch das eine dumme Idee: durch das Schreiben Emotionen rationalisieren und intellektualisieren zu wollen. Immerhin ist es etwas, das ich tun kann, denn warten ist schwer, aber still sitzen und warten, das ist mir unmöglich.

Mut

Unvermittelt legt er die Karten auf den Tisch. Es ist unsere zweite Chance. Wir waren essen, sind durch die Straßen gestreift, haben einen Zwischenstop in einem dreckigen Hinterhof eingelegt und sitzen nun in einer Bar.
Er schaut mich an, seine Augen dunkel, und sagt: wir können nicht zusammen sein.

Ich will austrinken, aufstehen, gehen. Frage dann doch warum? Es ist mir unerklärlich. „Willst du nicht“, frage ich, „oder kannst du nicht?“
Er spricht von Selbstzweifeln, von seiner Sorge, Konflikten nicht gewachsen zu sein. Von der Schwierigkeit, tragfähige Kontakte zu anderen Menschen aufzubauen. Er will alles richtig machen.
„Alles beginnt mit dem ersten Schritt“, meine ich. „Jetzt klingst du wie ein Kalenderblatt“, meint er. Er spricht von einem Abgrund, der uns trennt und den er nicht überbrücken kann. „Was ist mit der Brücke, die ich dir gebaut habe?“, frage ich. „Metaphern helfen uns nicht weiter“, sagt er.
Immer wieder bedeckt er die Augen mit seiner Hand, massiert seine Stirn, grinst, um die Tränen zu unterdrücken. Es ist nicht einfach für ihn. Es ist auch nicht einfach für mich. Eine Stunde später verstehe ich immer noch nicht, was ihn aufhält, was er befürchtet. Es ist so viel Nähe zwischen uns, so viel Intimität in unseren Worten, mehr als wenn wir nackt wären. Und dennoch entsagt er mir lieber, als die Zweisamkeit zu versuchen. Straft sich, straft mich.

Er begleitet mich ein Stück auf meinem Nachhauseweg. Ich fühle mich ausgelaugt und gleichsam aufgekratzt. Schwarzer Humor hat sich eingeschlichen, und wir müssen beide ein wenig lachen, weil das alles so absurd ist, grotesk, tragisch.
Zum Abschied nimmt er mich sanft und leicht in die Arme, einen Bruchteil eines Augenblickes nur. Etwas klickt, wie zwei Teile, die zueinander passen. Als er sich von mir löst, tut es so weh, daß ich es kaum aushalten kann.

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mein erster Freund

Wie allgemein bekannt, habe ich es in meinen Teenagerjahren in Liebesdingen zu nichts gebracht außer ein bisschen Rumknutschen und – als Vorgeschmack auf meinen weiteren Werdegang – unerwidertes Anschmachten. Dann ging ich studieren, wurde zwanzig und lernte über ICQ einen Informatiker kennen. Nachdem wir festgestellt hatten, daß wir etwa fünfzig Meter voneinander entfernt saßen – er im Rechnerraum, ich im Computerpool – trafen wir uns und von da an öfter.
Es gibt viele gute Dinge zu sagen über den Informatiker. Zum Beispiel, daß er in seiner Einraumwohnung einen Server betrieb, den er nachts ausschaltete, damit ich besser schlafen konnte. Ein paar dutzend Websites waren dann eben nicht erreichbar. Überhaupt, miteinander schlafen: mir ist vor allem das danach in Erinnerung. Die Geborgenheit, wenn ich in seinem Bett lag, zwischen der Wand und seinem Körper.
Leider hatte der Informatiker auch eine Reihe von Problemen oder issues: er stand kurz vor der Zwangsexmatrikulierung, Geld war knapp, Verhältnis zu seiner Mutter war schwierig und er wußte zu dem Zeitpunkt einfach generell nicht, was er aus seinem Leben machen wollte. Nun begab es sich, daß ich eines Tages eine Erkältung bekam. Eine ganz normale Erkältung, sie kennen das sicher. Am ersten Tag bekam ich Halsschmerzen, das Schlucken tat weh. Ich hatte Sehnsucht nach meinem Freund und freute mich darauf, mich von ihm ein wenig trösten zu lassen. Am nächsten Tag war meine Nase zu und ich fühlte mich schlecht. Wird Zeit, daß sich mein Freund mal meldet, dachte ich. In der Nacht zum dritten Tag röchelte ich vor mich hin und konnte kaum schlafen. Was ist nur mit meinem Freund? Telefon hatte er keines (Geldprobleme, Schufa), aber ein Glasfaserkabel. Meine eMail blieb unbeantwortet.
Am vierten Tag wurde der Rotz zähflüssiger und die Erkältung hatte mich fest im Griff. Die Sehnsucht, die ein schönes, vorfreudiges Gefühl sein kann, hatte sich in ein schmerzendes Stechen unter meinem Brustbein verwandelt. Ich war traurig, müde, down, ausgelaugt. Am fünften Tag war die Haut um meine Nase wund. Ich war umgeben von einem Arsenal an Erkältungsmedikamenten. Meine Gefühle pendelten zwischen „so ein Arsch!“ und „hoffentlich ist ihm nichts passiert…“. Am sechsten Tag konnte ich gelegentlich wieder durch die Nase atmen. Am siebten Tag war ich wieder gesund, und ich wußte, daß mein Freund mich verlassen hatte.

Ein Jahr später, mein Leben und seins waren getrennter Wege vorangeschritten, Zorn und Kummer längst vergessen, haben wir noch ein paar Worte gewechselt. „Ich habe gewußt, daß ich dich nicht glücklich machen konnte,“ sagte er auf meine Frage. Das klingt pathetisch, trifft aber den Kern der Sache (zumindest, wenn man den Unterschied zwischen können und wollen außer acht läßt.)
Kürzlich habe ich ihn übrigens gegoogelt und ein Bild von ihm gefunden. Er ist Systemadministrator in einer kleinen Stadt. Er trägt einen Ehering – wahrscheinlich hat er die Frau geheiratet, mit der er vor und nach mir zusammen war. Er sieht glücklich aus.

Ich weiß nicht, ob diese Geschichte eine Pointe hat. Sie hat auf jeden Fall Spuren in meinem Leben hinterlassen: wenn ich an schweren Tagen – müde, ausgelaugt, down, verwundbar – nach Trost suche und keinen finde, macht mich das sehr traurig.

Haus Nr. 205

Es ist Samstagnacht, viertel nach eins. Ich mache kurz das Fenster auf, bevor ich ins Bett gehe. Mein Blick fällt auf den Hauseingang gegenüber: die 205. Auf der schmalen Stufe vor der Haustür steht ein junger Mann, sein Rücken in der breitgestreiften Kapuzenjacke mir zugewandt. Zwischen ihm und der Haustür mag allenfalls zwei Handbreit Platz sein, dennoch erkenne ich dort eine zweite Person, ihm zugewandt, in seinen Armen.
Die Ampel taucht sie in wechselndes Licht: rot, gelb, grün, rot, gelb, grün. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos berühren sie nicht.
Der junge Mann wippt langsam wie Schilfgras hin und her. Ich meine, eine Hand in seinem Nacken zu sehen. Die Streifen an seinen Ärmeln bewegen sich in jenem Takt, mit dem er sein Gegenüber streichelt. Sie haben alle Zeit der Welt für diesen, ihren Anfang. Ich kann nicht sehen, ob sie sich küssen, aber ich bin mir absolut sicher, daß sie es tun. Die Luft riecht nach Regen und Asphalt, und ich bin berauscht von ihrem Glück.
Als ich fertig bin mit Aufschreiben (eine Seite Din A4 mit schwarzem Stift), stehen sie immer noch da und küssen sich.