der Fall

Es sind sehr schöne Schuhe: Budapester mit feiner Schnürung und hohen Absätzen. Ich sehe sie zuerst an meiner Kollegin; frage, wo sie sie gekauft hat und ob es okay wäre, wenn ich mir dieselben kaufe. Ein paar Tage später komme ich am richtigen Geschäft vorbei: sie haben noch genau ein Paar, in exakt meiner Größe, das ich anprobiere. Sitzt wie angegossen. Fünfzig Prozent reduziert. Was für ein Glück!, denke ich und bin sehr heiter.

Freitagabend. Nichts läuft rund, das Büro hat Unwucht, ich komme erst um halb acht raus aus dem Bankenturm mit diesem unguten Gefühl nichts geschafft und niemandem helfen gekonnt zu haben. Müde bin ich, fahre ein paar Stationen mit der U-Bahn, wo jemand erbost in sein Mobiltelefon brüllt. Es braucht Kraft, sich abzugrenzen, die Menschen zu ertragen, und ich merke, dass mein Faß beinahe leer ist, und die Schöpfkelle am Boden entlang schrammt. Ich steige aus, wünschte, ich wäre schon zuhause, muss aber noch zum Supermarkt, den Gehweg durch die Nacht an der vielbefahrenen Straße entlang. Ich knicke mit dem rechten Fuß um, stolpere, versuche mich mit dem anderen Fuß aufzufangen, bleibe hängen und schlage der Länge nach hin, mit dem Gesicht dem Asphalt entgegen wie ein fallender Baumstamm. Ich fange mich mit den Händen ab, spüre den Aufprall trotzdem an meinen Brüsten, nicht überraschend und auch nur eingeschränkt witzig, schabe mit dem Kinn über die Gehwegplatten. Am meisten aber leidet meine Würde, so dass ich sofort wieder aufstehe, weitergehe, vollgepumpt mit Adrenalin, froh, dass keine offensichtlichen Zeugen gab.

All diese Schritte, die mich an diesen Punkt geführt haben, an den Ort, an dem ich gefallen bin. Ich kann es nicht verstehen, kann nicht verstehen, wie ich dort hingekommen bin. Und doch war ich es, die diesen Weg gegangen ist, Schritt für Schritt.

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Viele Metaphern kann man spinnen aus diesem Fall. Die Freundinnen, denen ich davon erzählt haben, fragten als erstes: hast du dich verletzt? Nein, habe ich nicht, kein Riss in der Hose, das Kinn ein wenig rot, aber kein Blut, die lederbehandschuhten Hände sind auch okay, ebenso die Brüste, vielen Dank. „Dein Leben!“, meint die beste Freundin, andere hätten ins Krankenhaus gemusst. „Du bist ja sofort wieder aufgestanden“, sagt eine weitere, das hört man von einer Freundin lieber als von einem Blogkommentator, der schreibt: „wieder aufstehen ist das allerwichtigste im Leben [mehrere Ausrufezeichen]“. Die hohen Absätze als Symbol für Hybris, oder das scheinbare Glück, das sich als Unglück entpuppt. Märchenmotive.

Als ich jünger war, da war es mir wichtig, das Leben zu beschreiben, festzuhalten. Den roten Faden finden, und Pointen – immer diese Suche nach Pointen. Jetzt denke ich: Dinge passieren, das Leben geht weiter.

Als ich jünger war, da hatte ich nicht immer recht. Die Metaphern, die ich spann, waren oft mehr Poesie als Wahrheit. Ich habe mit beiden Händen nach dem Leben gegriffen. Jetzt zieht es an mir vorbei, und meine Hände bleiben leer.

Rückenwind

Ich träume, dass ich zum Gericht gehe, nicht ängstlich, nur neugierig und interessiert: die Wohnungsbaugesellschaft IGW, bei der auch ich einen Mietvertrag habe, wird wegen falscher Nebenkostenabrechnungen verklagt, und das will ich mir ansehen.
Wie das in Träumen so ist, kann ich den richtigen Verhandlungssaal nicht finden, laufe ratlos durch das Gebäude, bis sich eine Mitarbeiterin mir annimmt: ihre Kollegin sei etwas nachlässig mit den Aushängen, sie müsse selbst erstmal schauen, in welchen Raum das ist. Sie bringt mich in einen Warteraum und schreitet davon.
Der Warteraum ist behördlich und voll von Menschen im Transit. Ich setze mich. Ein Mann begrüßt mich freundlich. Er ist langhaarig und ein wenig hager, so gar nicht mein Typ, doch etwas klickt zwischen ihm und mir. Seine Freunde sind auch da, sie kennen ihn als einen, der manchmal was riskiert. Manchmal klappts, und manchmal nicht, so daß er liebenswerter Durchschnitt bleibt. Heute aber, heute hat er Rückenwind, und bevor mans sich versieht, sind wir verliebt. Er streichelt meine Hände, liebkost und hält sie. Ich trage einen schwarzen Rock, so wie ich einen hatte, als ich jung war, und ich bin schön, so schön, wie ich eben war.
Es ist ein schönes Gefühl, das Verliebtsein, warm und hell und federleicht. Es trägt mich auch im Wachen durch den Tag, und überrascht mich – daß ich trotz meiner Bitterkeit zu solch hoffnungsvolle, optimistischen Träumen fähig bin.