David Bowie

Auf dem Heimweg ein paar Tränen in den Augen gehabt. So ein Tag war das heute. Die Autobahn schwarz, die Rücklichter rot, die Spurstreifen weiß, ein Rauschen durch die Nacht, ein leichtes Nieseln. Weggewischt, automatisch.

Wenn die Organisation, für die ich arbeite, ein Mensch wäre, dann vielleicht so jemand wie David Bowie. Ganz besonders, ganz eigen. Unendlich interessant. Zu ganz großer Kunst fähig. Manchmal sehr kompliziert, sehr launisch, streng und hart zu sich und anderen. Mit großer Vision. Verrückt, und manchmal auf Drogen. Alles kann sehr umständlich sein oder sehr einfach. Und man weiß nie genau, ob man ihn gerade ansprechen kann oder nicht.

Fast alle in seinem Team wären spannende Leute, von den Musikern über das Management bis hin zu den Roadies. Ich mache vielleicht sowas wie Tourmanagement, halte die kleinen und die großen Räder am Laufen, verhandele mit Veranstaltern und dem Brandschutz und fische die gelben M&Ms im Dressing Room aus seiner Schale, die mag er nicht so gerne.

Hin und wieder passiert es mir, dass Menschen auf mich sauer sind, aber eigentlich David Bowie meinen. Sie schreiben mir lange Emails mit Vorwürfen, in denen ich mich nicht erkenne, und kopieren den Geschäftsführer der Plattenfirma mit ein. Es ist einfacher, mich anzugreifen als David Bowie, ich bin verfügbarer, ich bin erreichbarer, und ich bin risikoärmer. Wer will schon was zu David Bowie sagen, das man dann nicht mehr zurücknehmen kann?

Mich trifft das, ich fahre im Auto und fühle mich heuli. Weil’s ungerecht ist. Weil’s gemein ist, und die, mit denen ich heute morgen noch glaubte, hervorragend zusammenzuarbeiten: sie wissen genau, wie sie mich treffen können. Weil ich nicht gesehen werde, als ich.. wenn es doch wenigsten wirklich um mich ginge. Weil ich es aufräumen muss, wieder in Ordnung bringen muss, ein klärendes Gespräch, Verständnis zeigen, einfülsam sein, die eigene Verletzbarkeit zurückstellen.

Ob es unvermeidlich ist, diese Übertragung, eben Teil meiner Rolle?

Es gibt da eine kleine Stimme in mir, die mir sagt, ich solle weniger machen. Mich ein bisschen zurücknehmen. Mich vor allem raushalten aus anderer Leute Angelegenheiten, ihnen weniger helfen, weniger Feedback geben.

Ich würde David Bowie auch mit weniger weiterhin helfen können, seine Kunst zu machen. Seine Shows wären hinten vielleicht etwas mehr durch Klebeband und Schnur zusammengehalten, würden vorne aber genauso glitzern. Und er würde mich sicherlich weiterhin gelegentlich anlächeln, nach der Show, ein Glas in der Hand und sowas sagen wie: „it was quite good tonight, don’t you think?

Was hindert mich daran, der kleinen Stimme nachzugeben? Warum muss es immer so viel sein, als wäre ich die Künstlerin, besessen und brennend, bis nichts mehr da ist?

steril

„Das Jahr ist vorbei“, pflegte mein ehemaliger Europachef ungefähr ab September stets zu sagen. Er bezog sich dabei auf die Bankenwelt, in der ab September/Oktober meist keine neuen Projekte – zumindest solche, die für ihn Ertrag brachten – gestartet wurden. Im Juli und August ist ganz Frankfurt im Sommerurlaub, die restlich verbliebenen tragen Business Casual und vertreten dauernd mindestens drei Kolleg:innen. Entscheidungsfähig ist man erst wieder frühestens im September, und dann haben alle nur noch das Erreichen der KPIs, der Jahresziele und das Beenden von Angefangenem im Sinn.

Das Jahr ist also vorbei, und es war bisher für mich ein ziemlich merkwürdiges Jahr. Die erste Hälfte war geprägt von der Jagd nach Impfterminen und der großen Erleichterung, als endlich alle Nahestehenden versorgt waren. Anfang Juli ein ganz kurzer Sommerurlaub, und dann eine lange Phase der Vertretung anderer.

Mit dem Sommer bin ich sehr unzufrieden. Beruflich musste ich in der Vertretungsfalle dauernd spaßbefreite Sachen machen. Es war eine dauernde Überbelastung bei gleichzeitig sehr unterdurchschnittlichem Erfolg und Weiterkommen, ein Gefühl wie festgeleimt. Das Wetter war eine Enttäuschung, ich hätte ein paar heiße Tage gebraucht, um in der Sonne zu liegen und mich einmal bis auf die Knochen durchwärmen zu lassen. Ich war kein einziges Mal am Badesee, zu kalt, und habe viel zu selten keine Socken getragen. Ich habe die Ziele, die ich mir selbst gesetzt hatte, fast alle verfehlt: ich war nicht bootsfahren, habe keine Unternehmung mit K1 von Francine gemacht, war nicht in Berlin und habe auch keinen der geplanten Ausflüge in die Umgebung realisiert. Lediglich Perseiden gucken und Steak essen mit Novemberregen hat geklappt. Beim Karaoke war ich auch. Über allem hat sich innerlich ein Schwermut gelegt, ich war getrübt und betrübt, hatte noch weniger Lust, etwas zu machen, und noch mehr Frust, weil ich nichts gemacht habe. Eine abwärts gerichtete Spirale.

Im Frühherbst dann ein schöner Urlaub über meinen Geburtstag, warm und mit Pool, und eine ganze Reihe schöner Mittagessen mit Freund:innen und Kolleg:innen, draußen sitzend und Delikatessen verspeisend.

Bis ich krank geworden bin, zehn Tage lang, fünf davon absolut bettlägrig. Fieber, Schüttelfrost, Kopf- und Gliederschmerzen. Fast keine Erkältungssymptome. Kein COVID-19, wohl auch keine echte Grippe, aber eine „unbekannte Virusinfektion“. Das hört man ja gerne. In der Woche, bevor ich krank geworden bin, war ich zweimal im Restaurant, in Innenräumen, weil es draußen zu kalt und nass war. Sehr ungewohnt, mit so vielen unmaskierten Menschen auf kleinen Raum zu sitzen – im Büro wird fast ausschließlich Maske getragen – und ich kann nicht anders als zu denken, dass ich mich im Restaurant angesteckt habe. Eine Gewißheit gibt es natürlich nicht, und ich erkenne an, dass meine Wahrnehmung durch mein subjektives Gefühl der Verunsicherung geprägt ist. Aber der Gedanke bleibt.

Da ich weiß, wie schlampig die COVID-19-Zertifikate in den Restaurants geprüft werden, sind die steigenden COVID-19-Zahlen für mich also keine Überraschung. Ich hab das ganze auch schon Ende Juni prophezeit, ich kleine Kassandra:

Es stimmt nicht ganz, dass ich nicht überrascht bin: ich bin überrascht, wie hoch die Zahlen sind, mit Inzidenzen über 250 in Deutschland und über 1.000 in manchen Landkreisen, bis zu 50.000 Neuinfektionen pro Tag. Die Zahlen sind höher als jemals zuvor, obwohl es 70% Geimpfte gibt und – vielleicht – auch gar nicht mehr so viel getestet wird. Exponentielles Wachstum ist trotz der vielen Erklärungen von Frau Dr. Merkel eben doch etwas, dass wir Menschen nicht in unserem Zahlengefühl haben.

Wir hätten alle Mittel, um die Pandemie zu besiegen, aber sie werden nicht genutzt.

Ich bin darüber maximalst frustriert und deprimiert, mütend und resigniert. In meinem Tweet habe ich einen Lockdown prognostiziert. Ich antizipiere bereits den Kommentar, der erläutert, dass es in Deutschland nie einen echten Lockdown gegeben hat (meint z.B. man darf das Haus nur in Ausnahmefällen und zum nächstgelegenen Supermarkt verlassen). Ich meine mit „Lockdown“: Kontaktbeschränkungen, Einzelhandel und Restaurants geschlossen, Homeoffice-Pflicht, Distanzlernen, Veranstaltungsverbot. Ich denke, eine Mischung aus den genannten Lockdown-Maßnahmen liegt in der Luft, aber die Würfel sind noch nicht gefallen.

Es ist auch egal. Es wird für mich einen individuellen Lockdown geben. Definitiv keine Restaurantbesuche in Innenräumen mehr. Keine Dienstreisen. Keine Hotels. Kein Wellness, kein Schwimmbad, keine Massagen. Mehr Homeoffice. Keine Veranstaltungen. Kein Weihnachtsmarkt. Eher kein Einzelhandel.

Ich werde eine Art Selfcare-Liste anlegen mit allem, was noch geht. Karaoke im Einzelraum mit Francine (geimpft) würde vielleicht gehen. Kaffee draußen mit Novemberregen geht. Die zauberhafte Sarah zuhause besuchen geht. Sich die Martinsgans fertig zubereitet liefern lassen geht. Ich werde wieder mehr spazierengehen. Vielleicht kaufe ich mir eine Wildkamera mit W-LAN-Funktion, um den Marder bequem vom Sofa aus zu beobachten. Netflix bringt die zweite Staffel von The Witcher. Ich werde Dune streamen, auch wenn es im Kino schöner gewesen wäre. Ich habe ein Blumenabo. Wir werden wieder mehr Videokonferenzen unter Freunden machen.

Nächste Woche bekomme ich meine dritte Impfung. Ich überlege, im Dezember in die Emirate zu fliegen. Ganz schön paradox, oder? Die Rechtfertigung ist, dass bei 30 Grad das Leben eher draußen stattfindet, und die Emirate ein ziemlich regeltreues Land sind. Ungeimpfte müssen fünf Tage in Quarantäne, was das Land als Urlaubsziel für Coronaleugner nicht attraktiv macht. Bei Einreise müssen alle, auch die Geimpften, einen PCR-Test machen. Die 7-Tages-Inzidenz liegt bei 5 (in Worten: fünf). Risiko bleibt der sechsstündige Flug und die Zeit am Flughafen.

Man kann kein steriles Leben leben, sagte der Arzt zu mir, als ich beklagt habe, dass ausgerechnet ich mich angesteckt habe mit jenem unbekannten Virus. Alles hat seinen Preis, und ich atme auch sehr gerne. Ich muss mich entscheiden, und wünschte mir, ich müsste es nicht.