Tagesgeschäft

The Cure haben einen sehr schönen Song: Charlotte Sometimes. Als Inspiration für diesen Song diente ein Jugendbuch gleichen Titels (ich habs gelesen und fand es ganz okay. Song ist besser.) Die Autorin dieses Buches, Penelope Farmer, erzählt nun in ihrem Weblog, wie sie Robert Smith 1996 getroffen hat [1, 2]. Bezaubernd!

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Mittwoch Nacht, anstatt meinen Vortrag für Donnerstag vorzubereiten, zwei Stunden einen Dokumentarfilm geschaut. Es geht um Paul aus Eisenach, aufgewachsen in einer linken Hausgemeinschaft, der als Model entdeckt wird. „Entdeckt“ bedeutet hier nicht Castingshow oder Katalogbeilagen, sondern Prada und Galliano. Ein Artikel in der taz beschreibt recht treffend, warum mir dieser Film so gut gefallen hat.
In einer Szene wird ein Hausbewohner, der Paul hat aufwachsen sehen, gefragt, ob er Paul schön findet. Seine Antwort: „wenn man jemanden liebt, findet man ihn immer schön.“

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Er ist 25. Ich kenne ihn nur flüchtig, er hat manchmal mit dem Kollegen zu tun, mit dem ich ein Büro teile. Wir haben eine Art Gangbekanntschaft. Ich habe ihn längere Zeit nicht gesehen, als er wiederkommt, hat er sich eine Glatze rasiert.

„Warum hat er sich den Kopf rasiert? Sieht doch scheiße aus!“, sage ich zu meinem Kollegen. Und der Kollege sagt:
„Er hat sich nicht den Kopf rasiert.“
„Oh“, sage ich.

Krebs mit 25.

one, two, three, four!

In Stansted brach mir beim Verlassen des Flugzeuges der Absatz meines Schuhs ab. Den Ziplock-Beutel mit den Flüssigkeiten inklusive meiner Kontaktlinsen hatte ich bereits an der Security in Deutschland verloren. Kleinigkeiten. Ich flickte den Absatz mit Kaugummi, was bis zur Liverpool Street Station hielt. Dort holte mich Ruth ab.
„Ich habe Zahnweh“, sagte sie.

Und so gehen wir am nächsten Tag zum Zahnarzt, nachdem sie mir schwesterlich ein Paar Schuhe von sich geliehen hat und wir Kontaktlinsen organisiert haben. Während oben der Bohrer brummt, mache ich small talk mit der Sprechstundenhilfe. Ich erzähle ihr, daß wir ein wenig in Eile sind: es ist sechs Uhr, um acht stehen The Cure auf der Bühne.
„The Cure? I’ve never heard of them…“, sagt die Sprechstundenhilfe, und ich bin um Worte verlegen. Wo anfangen, zu erklären, was das ist, The Cure, und was sie machen?
„They play kind of rock“, rette ich mich schließlich. Dann düsen wir los.
Von der Tube Station führt ein sehr breiter Fußgängerweg zur festlich erleuchteten Wembley Arena; die Menschen strömen wie ein breiter Fluß in Südamerika. (Wir sind nicht die letzten). Alles Curefans, auch wenn fast niemand so aussieht. (Wir werden alle älter, das ist auch gut so). Kaum sind wir drin, heißt es schon: ladies and gentleman, please proceed to your seats, The Cure will be on stage in five minutes. (Vorbei die Zeiten, als wir Stunden bevor die Türen öffneten an der Konzerthalle waren.) Ruth eilt die Stufen hinunter in den Stehbereich, ich folge ihr, Tunnelblick. Als ich wieder hochschaue, stehen wir nur ein paar Meter von der Bühne entfernt, linken Rand, Porls Seite. Kein Gedränge, Engländer eben. Später wird mir auffallen, was mir noch überhaupt nicht gefehlt hat: Zigarrettenrauch. Es ist Rauchverbot. Dann weiß ich gar nicht, wie mir geschieht: gerade eben waren wir noch beim Zahnarzt, jetzt wirds schon dunkel, und dann sind sie da. Ich habe einen ausgezeichneten Blick auf Robert Smith, und Robert Smith hat uns alle immer noch in der Hand. Charisma, denke ich. Bei den ersten Songs ist es noch nicht so offensichtlich, die Menschen um mich bleiben englisch reserviert. „Was hat er uns denn zu bieten, der alte Knacker?“ scheinen sie zu fragen. Eine ganze Menge. Er scheint entschlossen zu sein, die Zahl der gespielten Songs seinem zunehmenden Alter anzugleichen (gespielte Songs: 41, Robert Smith: 48). Der Rausschmiß des Keyboarders, den ich persönlich nicht begrüße, hat zugegebenerweise zu einer längst fälligen Erneuerung des Soundes geführt. The Cure klingen klarer, dynamischer, sie improvisieren mehr. Der neue (alte) Gitarrist Porl Thompson gilt als großes musikalisches Talent. Manchmal spielt er mir fast ein wenig zu elaboriert. Dennoch entlastet er Robert Smith deutlich: der wirkt entspannt und gut gelaunt und läuft zu Hochform auf. Alkoholprobleme, so mein Eindruck, hat der gute Mann definitiv keine: wer dreieinhalb Stunden so unangestrengt präzise spielt, der kann nicht betrunken sein.
Ich war besonders beeindruckt von „to wish impossible things“, ein leiser Song, der leider etwas unterging. Zahlreiche Perlen von Disintegration haben mein Herz erfreut. Einige neue Songs („the only one“, „the boy I never knew“, „freak show“) wecken Vorfreude auf das wohl im Juni erscheinende neue Album.
Gegen Ende rocken The Cure dann richtig, es kommt ein Klassiker nach dem anderen. Von Robert Smith scheinen unsichtbare Fäden auszugehen, an deren Enden wir gerne willenlos tanzen. Mit den kleinsten Bewegungen zieht er daran und wir können gar nicht anders, als ihm zu Füßen zu liegen. Völlig überrascht sind alle, als The Cure „Lovecats“ spielen. Er spielt es mit so viel Humor, so viel Selbstironie, daß ich ganz atemlos bin. Ganz sicher ist Robert Smith nicht frei von Fehlern. Aber er ist groß, ganz groß.
Obwohl fast zwanzig Jahre älter, ist er auch um einiges fitter als ich. Beim dritten Zugabeblock schwächel ich ein wenig: ich habe ziemliche Schmerzen, zudem in geliehenen Schuhen, aber The Cure spielen so großartig… ich bete, daß sie aufhören, daß dies der letzte Song ist, und gleichzeitig, daß sie nie aufhören. Es ist so wundervoll. Und Robert Smith sagt: one, two, three, four!
Als es dann doch zuende ist, geht Robert Smith am Bühnenrand entlang und verbeugt sich lange und oft. „Danke“, scheint er zu sagen, „daß wir euch unterhalten durften.“ Es ist die Bescheidenheit eines Mannes, der schon seit Jahrzehnten niemandem mehr etwas beweisen muß.

Das war jetzt also mein achtzehntes Konzert. Ich bin sehr froh, daß ich sie gesehen, gehört, erlebt habe. Es war eine kluge Entscheidung, dies in Wembley zu tun (Wembley selbst hat ein wenig den Charme einer Mehrzweckhalle, muß ich sagen). The Cure waren in Topform: es war das letzte Konzert ihrer kleinen Europatournee. Außerdem hat sich Robert des öfteren mal an den linken Bühnenrand orientiert: dort vermute ich seine Frau, Freunde und Familienmitglieder.
Diese achtzehn Konzerte, sie verschwimmen in der Erinnerung ein wenig ineinander. Was möchte ich von diesem behalten?
In der standing area gibt es immer ein wenig Bewegung, sehr langsam zwar, aber man driftet auseinander oder zueinander hin, und nach einer Stunde oder zwei steht man woanders als am Anfang. So stand ich zunächst neben Ruth, dann vor ihr, dann von ihr entfernt, schließlich sie ein Stück vor mir. Plötzlich dreht sie sich um und fragt mich zwischen zwei Songs, ob ich nicht wieder vor sie möchte (ich bin etwas kleiner als sie.) Ich verneine, ich will nicht drängeln. Da streckt sie die Hand aus, packt mich am Handgelenk, zieht mich zu sich und schiebt mich vor sich. Ich sehe perfekt.
Dieses Gefühl, wie sie mich zu sich zieht, und was darin liegt: ihre Art, beinahe grob und doch so liebevoll für mich zu sorgen – das will ich mir behalten.

plainsong

Ruth fragt mich, und ich denke kurz darüber nach. Dann sage ich:

„Naja, immerhin war ich noch nie in England auf einem ihrer Konzerte.“

„Du lügst!“, ruft sie und überrascht mich mit ihrer Empörung.

„Stimmt,“ sage ich nach kurzem Grübeln, „ich habe sie im Hyde Park gesehen, wann war das nochmal?“[2002]

„Aber noch nie in Wembley.“

„Ja, Wembley, das wär schon was’…“

Am Donnerstag den 20.3. gucke ich mir also zum achtzehnten Mal The Cure an. In Wembley. Da war ich noch nicht. Ruth hat mich eingeladen, und ich konnte nicht widerstehen.

Übrigens…

– The Cure sind auf Tour
– die Tour ist ausverkauft
– das Konzert in Berlin (16.2.) wurde von der Arena ins Velodrom verlegt und es gibt jetzt wieder Karten.

Leider ohne mich, weil:
– zu viel Streß
– ich habe sie schon siebzehn Mal live gesehen
– keine neuen Songs
– da ziehe ich mir doch lieber den Livemitschnitt aus dem Internet.

Zum achtzehnten Mal werde ich sie dann wahrscheinlich mit Ruth in Oberhausen sehen. Aufgrund meines fortgeschrittenen Alters erwäge ich den Kauf von Sitzplätzen (!). Ewähnte ich schon, daß die Tickets ausverkauft sind? Hallo, Schwarzmarkt. (Wer welche übrig hat: frau_fragmente bei yahoo.de).

Was wollte ich sagen? Es gibt noch Karten für nächsten Samstag. Live sind sie großartig, auch oder vielleicht vor allem mit ihrem alten Material. Dieser Beitrag existiert eigentlich nur, um mich zu rechtfertigen, weil ich mir diese Chance durch die Lappen gehen lasse. Machen Sie es besser!

Robert Smith vs. Roger O’Donnell

Vorabinfo: erstgenannter ist essentielles Mitglied von The Cure, zweitgenannter nicht, so daß Mr. Smith Mr. O’Donnell (zusammen mit Perry Bamonte) Anfang diesen Jahres aus der Band entfernt hat.

Robert Smith hat mehr Charisma.
ABER
Roger O’Donnell versteht das Internet.

Insgesamt stehen die Dinge für Roger nicht schlecht. Er ist zwar nicht mehr in The Cure, macht dafür jetzt aber selbst Musik, und zwar – wie ich finde – gelungen:
Roger O’Donnell plays to the cows
und for the truth in you. (beides youtube)
Außerdem hat Robert Smith den Rausschmiss nicht gerade elegant bewerkstelligt, so daß Roger O’Donnell sozusagen als moralischer Sieger aus dem ganzen hervorgeht.
Dafür hat Robert Smith, wie gesagt, unschlagbares Charisma.

Frau F. denkt nach und kommt zu keinem Schluß.

Wenn ich nachdenke, dann hilft mir manchmal Robert Smith. Der sitzt dann, leicht transparent, auf der Kante des Sofas, eine Bierflasche in der Hand, schaut auf seine Schuhe und hört mir zu.
Ich rede gerne mit ihm über das Glück. Wie es sich anfühlt, wenn er glücklich ist. Ob es lange dauert oder kurz.
Bei mir ist das Glück ziemlich kurz, ein Moment nur, wenn man auf einer Brücke steht oder an einer roten Ampel. Ein Zwinkern in den Augen Buddhas. Das Glück fühlt sich leicht an, als wäre man ein klein wenig verliebt – in sich selbst vielleicht? Zumindest finde ich mich dann ganz okay, ich werde aber nicht blind gegenüber meinen Makeln und Abgründen. Sie sind nur einfach nicht wichtig in diesem Moment des Glückes.
Gerne würde ich von Robert Smith wissen, ob man Glück auch chemisch herbeiführen kann; es heißt, er habe da Erfahrung. Ich selbst habe keine, zumindest nicht mit verbotenen Substanzen, ich warte noch auf den richtigen Zeitpunkt für meinen ersten Joint, den ich mit einem Mann rauchen will, in einem Zimmer unterm Dach, auf dem Fußboden liegend durchs Dachfenster den Himmel betrachtend.
Das Glück des Rinderbratens, damit kenne ich mich aus. Wenn man einen Bissen von etwas nimmt, die Augen schließt und sagt: einfach perfekt.
Ob er einen Rat für mich hätte. (Von ihm würde ich vermutlich einen annehmen.) Wie man das Glück herbeiführen kann. Ob das überhaupt möglich ist? Doch leider bricht unsere Unterhaltung hier meistens ab; Robert Smith nimmt einen Schluck aus seiner Bierflasche, wird zunehmend transparenter, und ich gehe in die Küche und mache den Abwasch. Stehe dann, die Küchenschürze umgebunden und mit tropfenden Händen, noch einmal im Türrahmen und schau auf die Stelle, wo er nicht mehr sitzt. Ob man, um Glück empfinden zu können, im gleichen Maße Unglück ertragen muß.
Darauf will ich die Antwort nicht selbst herausfinden müssen.

(ohne Titel)

Geträumt, ich stehe mit den Bandmitgliedern von The Cure am Bahnsteig in Brighton. Ich arbeite für sie, nichts großes, stagehand. Meine Aufgabe ist es, sie in den Zug zu setzen – schwierig, denn sie sind betrunken. Robert Smith, die Augen ganz leer, dreht sich um, geht, läßt sich nicht aufhalten, geht an den Strand von Brighton, geht ins Meer.
In meinem nächsten Traumbild liegt er bleich und nass im Sand, ein älteres Pärchen beugt sich über ihn, und ich, hilflos und entsetzt daneben. Man muß einen Krankenwagen rufen!
Im Krankenhaus spuckt ein alter Nadeldrucker seine Biowerte auf Endlospapier aus. Blutalkohol 20 Prozent. Die ganze Notaufnahme ist voll von Cure-Fans, die mich fragen: ist er tot?
Ich gehe in das Behandlungszimmer und bürste ihm die Haare; er ist traurig und teilnahmslos. Da kommt mir eine Idee: wir könnten doch einfach behaupten, er sei gestorben? „Willst Du das?“, frage ich ihn. Zum ersten Mal: ein Funkeln in seinen Augen.
Plötzlich sind da Kettenglieder, und ich weiß, ich muß sie aufstemmen, aufhebeln. Dann schneide ich Robert Smith die Haare ab, damit ihn niemand erkennt. Zum Schluß sagt er etwas. Eigentlich ist es eine Frage: „nobody owns me any more?“.
Nein, sage ich, du bist frei, und fühle mich dabei glücklich, als ob ich das richtige getan hätte.

(ohne Titel)

Als ob ich eine große, frische Schürfwunde habe, die sich blutig unter meiner Kleidung versteckt, so fühle ich mich heute.
Und ein Bild ist es, an das ich oft denken muß: wie ich beim Cure-Konzert in der Wuhlheide meine Gruppe von Freunden in der Masse von 10 000 Leuten verloren habe. Wie ich mir, als ich sah, daß es aussichtslos ist, eine köstliche Crêpe gekauft habe. Wie ich mich dann an den obersten und äußersten Rand der Zuschauertribüne gesetzt habe, wo so wenig Leute waren, daß ich beinahe alleine war. Wie ich dort saß, mich gut fühlte und ich seitlich auf die Bühne blickte, wo gerade The Cranes als Vorgruppe spielten. Wie ich an der Seite der Bühne dann Robert Smith stehen sah, The Cranes zuhörend, unter einem blauen Zeltdach, das nur von meiner Position aus einsehbar war. Seinen Oberkörper, das quadratische Verhältnis von Hüfte zu Schulter, den rechten Arm rechtwinklig abgebogen, ein Getränk auf Höhe des Solarplexus haltend. Wie ich da saß und mich freute, über diesen kleinen, feinen Moment, fernab der Menge.
Manchmal braucht man eine Distanz, um sich überraschend nah sein zu können, denke ich, und versuche, mich zu trösten.

[Setlist bei Chain Of Flowers. Craig, der die Seite betreut und eine anerkannte Größe in der Cure-Gemeinde ist, kommt/ kam übrigens aus New Orleans]