hören

1. Ich gehe dann doch mal zum Arzt. Seit Freitag höre ich auf dem einen Ohr nichts mehr, es sabbert, ist geschwollen und wird nicht besser.
„Ich bin allergisch gegen Amoxicillin und Clindamycin“, sage ich zur Arzthelferin. Sie schreibt „Penicillin“ auf die Karteikarte. Nein, sage ich, und kläre sie auf, das das nicht das gleiche und schon gar nicht dasselbe ist. Sie schreibt die Namen widerwillig auf, es ist ihr nicht wichtig. Mir schon.

2. Ich habe 90 Sekunden mit dem Arzt. (Statements zum Zustand des deutschen Gesundheitssystems fügen Sie bitte eigenständig ein. Ruth meint, man solle froh sein, daß man überhaupt einen Arzt sieht – in Großbritannien, wo sie lebt, ist das wohl nicht so einfach.)
Ich habe also 90 Sekunden mit dem Arzt. Er schaut mir ins Ohr, spült es, schaut wieder rein, sagt Myringitis, und verschreibt mir Ohrentropfen. Ich sage zwischen jeden Schritt, insgesamt also drei Mal in 90 Sekunden, daß ich allergisch gegen Antibiotika bin und keine will. Die Ohrentropfen enthielten Alkohol, meint er, das entzieht den Bakterien das Wasser.

3. Ich gehe in die Apotheke gegenüber der Arztpraxis und löse das Rezept ein. Ich frage nach den arzneilich wirksamen Bestandteilen. Ciprofloxacin, ein Antibiotikum, sagt die Apothekerin.

4. Ein HNO-Arzt, der nicht zuhören kann, und eine Frau, die sich nicht durchsetzen kann. Witzig, lacht nur mal wieder keiner.

5. Ich hätte mich besser vorbereiten sollen, ein geeignetes Medikament recherchieren sollen und dann sagen: das will ich. Ich hätte mißtrauischer sein sollen, hätte den Arzt an seinem Ärmel festhalten und fragen sollen: was ist der Wirkstoff? Ich hätte mich in der Apotheke umdrehen und zurück in die Arztpraxis gehen sollen und sagen: das ist nicht richtig.
Härter werden, das nehme ich mir immer wieder vor, und scheitere.

6. Ich bin allein, denke ich, und tue mir ein wenig selbst leid. Wenn ich mich nicht für mich selbst einsetze, wer tut es dann? Und selbst ich laß mich manchmal im Stich.

7. „Ich kenne niemanden, der so wenig allein ist wie du“, sagt Ruth, und übertreibt ein wenig, und hat ein wenig Recht: die Lieblingskollegin hört mir zu, Twitter hört mir zu, die Fledermaus hört mir zu, Ruth hört mir zu, und allen bedeute ich etwas.

8. Clindamycin. Es fing mit kleinen Punkten im Dekolleté an, die sich zu Quaddeln ausbreiteten, überall – von Kopf bis Fuß, am Venushügel und hinter den Ohren. Meine Lippen waren geschwollen wie die von Daisy Duck, auch meine Augenlider. Dort, wo die Beine in den Rumpf übergingen, liefen die Quaddeln ineinander in eine einzige Schwellung. Ich lag ein paar Tage in meiner Wohnung, schwindelig und halb weggetreten, was das Erinnern nicht einfach macht. Ich weiß noch, daß ich nur liegend fernsehen konnte, keine Kraft und zu viele Schmerzen hatte, um mich aufzusetzen. In den letzten fünfzehn Jahren war ich nie so krank wie da.
Das ist die Geschichte, die der Arzt hören sollte. Ich sehe ein, das sie für ihn nicht interessant und auch nicht relevant ist.

Klare Sicht

„Hat sich in Ihrem Leben in letzter Zeit grundlegend etwas verändert?“, fragt mich die Optikerin. Ich sehe nämlich auf dem rechten Auge manchmal schlecht. „Nehmen Sie Medikamente?“ Sie schaut mich streng an. Eine Ursache kann sie nicht finden.

Nachts träume ich von Crush. Ich sehe sein Gesicht glasklar, sehe jedes Detail seiner Gesichtszüge. Ich erzähle ihm von meinem rechten Auge, was ihn in einem Exkurs über die Physiologie des Sehens ausbrechen läßt. Zuhören kann ich ihm nicht, obwohl ich es verzweifelt versuche, aber mein Chef braucht mich: dringende Probleme, die nur ich lösen kann.

Am nächsten Tag gehe ich an ihm vorbei, dem echten Crush, sein Gesicht wie in meiner Erinnerung, die Jacke schwarz und nicht mehr grau wie noch im Herbst, das Blau seines Pullovers wie Tinte auf Briefpapier. Wir schauen einander an, zehn Schritte lang, und grüßen uns mit einem kaum merklichen Nicken. In mir zerrt meine Sehnsucht wie ein Bullterrier an einer Leine aus Leder. Ich würde mich gerne zu ihm setzen, einen Moment nur, mich mit ihm unterhalten, ihm nah sein, aber es gibt keine Nähe zwischen uns, nicht einmal, wenn unsere Hände sich berühren.
Ich weiß nicht, was er in mir sieht. Autoritätsfigur? Schräge Exzentrikerin? Irrer Clown? Vielleicht weiß er es selbst nicht, und fühlt sich deshalb so unsicher mit mir, obwohl ich das nicht will. Und ich? Ich werde nie rausfinden, wie er mich sieht. Ich werde nie mein eigenes Bild von ihm korrigieren können. Wir werden einander nicht erkennen.
Es fällt mir schwer, diese Ungewißheit auszuhalten. Ich verstehe, daß Obsessionen wachsen können aus einem Samen einer solchen Ungewißheit. Stattdessen denke ich an Karabinerhaken, die ich löse, Bindfäden, die ich durchschneide: loslassen, gehen lassen.
Hoffentlich weiß ich das noch, wenn ich ihn morgen wieder sehe.

Komfortzone

Ich bin frei zu gehen. Die vergitterte Tür, gegen die ich mich so oft verzweifelt geworfen habe, steht offen. Ich bin frei zu gehen, und ich kann nicht.
Was hält mich? Gewohnheit. Bequemlichkeit. Mein etablierter Platz in der Hackordnung. Die Sicherheit, zu wissen, wie die Dinge ablaufen.
Was fürchte ich? Die Unbequemlichkeit, fremd zu sein, neue Bilder auszuhalten, die Fremde von mir haben. Wieder Lehrling sein..
Wer wachsen will, muß Lehrling sein das ganze Leben lang.

Es war einfacher, als ich noch mehr gelitten habe.