Audiomitschnitt der Lesung: „Fast ein Jahr“ [mp3]
Schöne Zusammenfassung der Lesung in Wort und Bild: [hier].
Ich spüre lange keine Angst. Nicht im Sommer meiner Arbeitslosigkeit, als ich zu vielem Ja sage und nur selten Nein, mich lieben lasse in Hotelzimmern, mir die Füße küssen lasse. Erst im Oktober, an meinem zweiunddreißigsten Geburtstag, wird der Ton ernster, erste Sorgen – nicht, ob ich einen Job finden werde, sondern, ob er mir gefallen wird. Ich erhalte eine Absage, bei weitem nicht die erste, aber die erste, die schmerzt.
Die Novembertage reihen sich leer aneinander, leer bleibt auch mein Briefkasten. Meine Welt schrumpft, wird zu einer Welt voller Geräusche – das Klingeln des Briefträgers, das Klackern der Briefkastenschlitze – und voller Lärm. Unter mir die Alkoholikerin, ihr Fernseher läuft die ganze Nacht. Neben mir ein Neunzehnjähriger, der gerade sein erstes HipHop-Album aufnimmt. Seine Beats, die mich nachts um zwei aus dem Schlaf reißen, verderben mir die Tage. Aber ich glaube ja, dass ein neuer Job, ein Umzug, ein gutes Gehalt, eine andere Wohnung nur noch kurze Zeit, allerhöchstens ein paar Wochen entfernt sind, jeden Tag kann eine Einladung zum Vorstellungsgespräch im Briefkasten sein. Was aber im Briefkasten liegt, das ist Post von der Bank. Lastschriften sind geplatzt, weil die Bank mir den Dispo gestrichen hat, dafür gibt es übrigens keinen Brief, das passiert einfach so, wieder was gelernt. Ein fallender Dominostein: die Kreditkartenabrechnung kann nicht abgebucht werden, die Kreditkarte wird gesperrt, Amazon storniert alle Bestellungen, darunter auch das Weihnachtsgeschenk für die beste Freundin. Ich zaubere von irgendwoher ein paar Hundert Euro, und fühle mich arm, arm an Möglichkeiten, unfrei.
Wenigstens habe ich Winterschuhe. Im Februar verpflichtet mich das Amt zu einer Maßnahme, und als ich durch den Schnee dorthin stapfe, sehe ich viele Menschen in Sneakers, mit dünnen Jäckchen, ohne Handschuhe.
Zwei Wochen lang sitze ich mit zwanzig anderen zusammen, der Raum hat ein Fenster, die Dozenten sind ganz gut, ich kann keine Horrorgeschichten erzählen. Der Horror ist vielleicht, dass die anderen echt okaye Typen sind: mit Diplomen, Berufserfahrung, Motivation, aber ohne Job, seit langem schon. Uns allen droht Hartz IV, einige haben es schon, diese schwere Krankheit, von der man sich kaum noch erholt. Vorne erklärt uns ein Dozent die Regularien von ALG II, während wir zittern wie ängstliche weiße Kaninchen. Kannst ja wieder zuhause einziehen, sagt meine Mutter, und ich könnte heulen, wenn ich nicht… ja wenn ich nicht eine Einladung zum Vorstellungsgespräch bekommen hätte. Eine Stelle an einem großen Forschungsinstitut, drei Mitbewerber, einer davon eine ehemalige Kollegin. Das Auswahlverfahren dauert einen ganzen Tag; wir müssen einen Vortrag halten. Ich reise am Abend zuvor an, das Institut zahlt ein Hotelzimmer. Ich liege in der Hotelbadewanne und denke an Uwe Barschel. Ich habe auf all dies keine Lust mehr, es ist eine Quälerei. Dann merke ich: die Akustik ist super, und spreche den Vortrag nochmal durch.
Am nächsten Morgen tanzen wir an: ich trage einen Hosenanzug, (Nadelstreifen), die ehemalige Kollegin einen Jeansrock, der dritte im Bunde, ein Osteuropäer, eine Cargohose und einen 80er- Jahre-Pulli. Unsere Kleidung verrät unsere unterschiedlichen Vorstellungen von diesem Job.
Die Arbeitsgruppenleiterin und potentielle neue Chefin ist schwanger, hochschwanger. Der Tag des Auswahlverfahrens koinzidiert mit ihrem Entbindungstermin, und ich bewundere, wie sie stoisch die langen Vorträge aussitzt, ohne aufs Klo zu gehen, und ich bin mir sicher – sie muss! Einer ihrer Mitarbeiter sieht aus wie der Tod, bleich, rote Zombieaugen. Hat sich trotz Grippe ins Labor geschleppt, dringende Experimente. Ich frage mich, wie es hier wohl mit Urlaub aussieht, Erholungsurlaub. Im alten Job konnte ich selten welchen nehmen, es war nicht gerne gesehen, und diese dringenden Experimente, die hatte ich auch immer. Hier stehe ich nun, präsentiere die Ergebnisse all dieser Mühen, durchgearbeiteter Wochenenden und Nächte, und am Ende meines Vortrages fragt mich die Arbeitsgruppenleiterin, weshalb ich das überhaupt gemacht hätte, weshalb ich die Studie nicht ganz anders ausgerichtet habe. Ich bin sprachlos.
Dann ist meine ehemalige Kollegin dran, nun meine Konkurrentin. Ich mochte sie schon vorher nicht besonders, dass sie mir verschwiegen hatte, dass sie sich auch auf diese Stelle beworben hatte, macht sie nicht sympathischer. Als sie vorne steht und sich durch ihren Vortrag stottert, fällt mir auf, wie ihr Gesicht anfängt zu glänzen, und ein paar Strähnen ihres blonden Haares langsam dunkel werden. Und ich verstehe: Angstschweiß. Später überhöre ich: 38, Hochschulrahmengesetz, und ich begreife, dass dies hier eine letzte Möglichkeit für sie ist, und plötzlich fühle ich mit ihr.
Im Büro der Arbeitsgruppenleiterin dann kein Gespräch, sondern ein Verhör, und eine nicht endend wollende Auflistung mit dem Job verbundener Pflichten, hinter der die altbekannte Arbeitsgruppenleiterangst steht, die Mitarbeiter könnten nicht genug arbeiten, sich nicht bis zur letzten Faser ihres Seins der Forschung verschreiben. Ich versuche, Enthusiasmus zu faken, ich brauche diese Stelle, aber es kommt nichts. Ich bin leer. Ich kann das nicht mehr.
In den darauffolgenden Wochen bewerbe ich mich überall – als Lehrerin, als Vertrieblerin, bei Zeitarbeitsfirmen. Ich bin jetzt ganz unten. Doch es kommen nur Absagen.
Noch eine Jahreszeit bis Hartz IV. Auf Twitter schreibt mich eine Bekannte an, die jemand kennt, der eine Stelle zu besetzen hat. Überhaupt nicht mein Bereich, aber ob ich mich trotzdem mal bewerben möchte? Ich möchte, ich komme in die Vorauswahl, wir führen ein Telefoninterview, ich komme eine Runde weiter und mache einen Onlinetest, in dem es um Formatierung in Microsoft Word geht. Ich habe Word verwendet, um meine Dissertation zu schreiben und kenne mich anscheinend besser aus, als mir bewusst war, denn ich werde zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Wir mögen uns. Ich fordere dasselbe Gehalt, das auch das Forschungsinstitut gezahlt hätte. Man sagt mir zu. Ich bin exstatisch. Ich bin todtraurig.
Ich gehe zu meinem Coach, so ein Zen-Typ, der zehn Jahre mit suchtkranken Männern gearbeitet hat. Und ich weine, weine, als wäre ich ein Gartenschlauch, spröde geworden, zu oft gebogen, zu oft verbogen worden. Ich habe so viel verloren, so viel aufgegeben, es hat schon vor Jahren begonnen. Heimat, Freunde, Geld, Zeit, Jugend, Würde, Ehre, die Möglichkeit der Liebe. Von so vielem habe ich mich verabschiedet, so viel mußte ich loslassen, ich kann mich nicht auch noch davon trennen, Naturwissenschaftlerin zu sein. Und mein Coach lächelt sein Zen-Lächeln, denn er weiß, dass man mehr kann, als man glaubt, und auch, dass es letztlich keine Rolle spielt, weil das Leben austeilt, ohne zu fragen, wieviel man aushalten kann.
Ich nehme die Stelle an, ziehe aus dem Ghetto weg, raus aus dieser Stadt, rein in eine andere, lasse die Alkoholiker und Hosentaschen-Bushidos hinter mir, kein Blick zurück. Ich sitze nun in einem Büro in einem der Bankentürme, zwanzigster Stock, beinahe in den Wolken. Ich fühle mich manchmal wie nach einem Flugzeugabsturz, aber der Fallschirm ist aufgegangen, das sind ein großes Glück, und ein kleines Happy End.
Zusammen mit Andrea Diener und Komaläufer (der auch die Musik beisteuern wird) werde ich am Donnerstag, den 20. Januar 2011, im Museum für Kommunikation Frankfurt zwei Texte lesen – einen unveröffentlichten und einen alten Text aus 2007.
Durch den Abend führt Tine Nowak.
Es ist mir eine große Ehre.
Ein Alptraum. Ich stehe im Labor. Alles ist sehr eng. Der Raum winzig, die Arbeitsflächen vollgestellt.
Neben mir: mein Chef. Er hat es schon lange nicht mehr nötig, an der Bench zu stehen, tut es aber trotzdem. Um was zu demonstrieren? Man weiß es nicht.
Ich stelle fünf oder sechs lange, schmale Glasröhrchen in die Zentrifuge. Sie sind mit tiefroter Flüssigkeit gefüllt; wie Blut, aber nicht trüb, sondern klar.
Als ich die Röhrchen wieder aus der Zentrifuge nehme, zerbrechen mir zwei.
Ich bin entsetzt. Fühle mich, als ob ich ins bodenlose falle. Versuche, mich selbst zu beschwichtigen, und meinen Chef, dessen schweigsamen, missbilligenden Blick ich in meinem Rücken spüre. „Ich arbeite das nach“, sage ich entschuldigend, und überschlage im Kopf, wie lange das dauern wird, wieviel Arbeit da gerade zerbrochen ist. „Ich komme am Wochenende.“
Ich wache auf, oder steige im Traum eine Bewußtseinsebene höher. Ich weiß, daß ich längst nicht mehr in dieses Labor gehöre, längst keine Wochenenden mehr durcharbeiten muss. Ich bin sauer, dass mir dieser Alptraum die Nacht versaut, und will nicht, dass er wiederkehrt. Ich schlafe wieder ein, und mit der Chuzpe eines Kindes, das Dinge tut, von denen es nicht weiß, dass sie nicht möglich sind, spule ich den Traum zurück, als wäre er eine Musikkassette, ein Youtube-Video.
Ich nehme die Röhrchen aus der Zentrifuge.
Sie zerbrechen nicht.
„Siehst du“, sage ich zum Chef, „ist doch alles gut.“
Mein schlafender Körper seufzt, entspannt sich. Der Rest der Nacht ist traumlos, und ich wache am nächsten Morgen in einem anderen Leben auf.