Eines Tages mache ich alles ein wenig anders. Ich fahre zwei U-Bahnen früher als sonst in die Stadt, denn ich will besondere Kekse kaufen, um einer Kollegin damit eine Freude zu machen. Ich bin so früh dran, dass das Kaufhaus noch nicht geöffnet hat, also genieße ich das Flair der Hauptwache: all die Menschen, die kreuz und quer durch die niedrige, langgestreckten Halle der B-Ebene ihrem Ziel entgegenströmen, und ich, ohne Eile.
Ich entscheide mich, mir beim Bäcker zum Frühstück ein Croissant zu kaufen. Dass es drei Bäcker in der Hauptwache gibt, fällt mir erst jetzt, außerhalb meiner gewohnten Bahnen, auf. Dem Thema des Tages folgend gehe ich zu dem Bäcker, den ich sonst nie wähle, und traue meinen Augen nicht, denn an der Theke steht mein Liebhaber.
Rational ist es ganz klar: er steigt hier um, und kauft sich, wie ich, zum Frühstück etwas beim Bäcker. Doch in diesem Moment kommt es mir so unglaublich und überwältigend vor, ihn dort zu treffen – unter all diesen Zehntausenden Menschen, die diesen Ort durchqueren, ausgerechnet wir beide, zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Ich begrüße ihn, wir wechseln ein paar Worte, er bezahlt und wir gehen ein Stück zur Seite. Dann umarme ich ihn. Er hat so einen wunderschönen Körper: feingliedrig, aber doch maskulin; sehnig, aber nicht übermäßig muskulös, und ist genau richtig groß, so dass mein Kopf an seine Schulter passt. Wir küssen uns. Euphorie und Wunder durchfluten mich, ich bin ein einziges Lächeln. So könnte es jeden Tag sein, denke ich, und wie schön das wäre, wenn man jemanden küssen könnte, sooft man will.
Dann ist unser Kuss vorbei, so wie auch unsere Liaison beinahe vorbei ist. Sie flackert in den kommenden Wochen noch einmal auf, und dann gibt es keine Begegnungen mehr, weder geplant noch zufällig, und keinen Groll. Die Dinge sind nun mal, wie sie sind. Aus dem Erlebten wird Erinnerung, und schließlich eine Geschichte.