2019.

Januar
Das Jahr beginnt sehr arbeitsreich mit einer Prüfung für eine Fortbildung. Ein halber Tag mit schriftlichen Prüfungen, zentral von einer Dachorganisation gestellt, 80% braucht man zum Bestehen. Ich nehme die Prüfungsvorbereitungen erst auf die leichte Schulter, lerne dann zwei Nächte durch. Ich schwöre mir, in nächster Zeit keine Weiterbildung mehr zu machen, und erinnere mich, dass ich akademisch eigentlich bereits alles erreicht habe und mir nichts mehr beweisen muss.
Ich bestehe die Prüfung. Das Zertifikat geht in der Post verloren und wird mir erst ein halbes Jahr später nach dramatischem Email-Wechsel zugesandt. Das erlangte Wissen kann ich in meinem Arbeitsalltag bisher nicht anwenden.

Der Rest des Januars (und auch des Februars) ist von Brexit-Vorbereitungen geprägt. Wir wissen alle noch nicht, dass der Brexit noch nicht kommen wird, und bereiten uns darauf vor, am 29. März von einer Art Klippe zu stürzen. Ich lasse mich vom Head of Legal in London zu einer Aktion drängen, die mir sehr viel Streß macht, und sich als übereilter Aktionismus herausstellen wird. Ich lebe stark auf einen Badeurlaub mit Nichtstun im Februar hin.

Februar
Zwei Tage, bevor ich in den Urlaub fliege, stecke ich mich bei meinem Chef mit einem heftigen grippalen Infekt an. Den sechsstündigen Flug nach Dubai verbringe ich fiebrig, hustend und vor allem mit laufender Nase, und trage sicherlich maßgeblich zur weiteren Verbreitung dieses Erregers bei. In Dubai hat es nur 20°C und es regnet immer mal wieder. Der Regen löst bei allen dauerhaften Dubai-Bewohnern große Freude aus und ist Gesprächsthema Nr. 1. Ich friere am Pool, leide, huste und schniefe vor mich her. Die Hotelanlage hat vier große Pools und unzählige südostasiatische Rettungsschwimmer, über die ich viel nachdenke. Zu den guten Erinnerungen zählen einige schöne Momente mit meiner Mutter und eine Fahrt auf dem Dubai Creek mit einem Dhau.

März und April
Unklar, ob ich dauerhaft krank bin oder wieder erneut krank werde. Fest steht, ich kriege keine Luft, vor allem dann nicht, wenn ich auf der rechten Seite liege. Eine ganze Weile schlafe ich einfach immer auf der linken Seite, wache dauernd auf, im Liegen tun mir der ganze Körper weh, und ich huste, huste. Freitagnachmittag dann Fieber, 40°C, ich glühe, keine Arztpraxis mehr offen. Die ganze Nacht kein Schlaf, zunehmend auch keine Luft mehr, bis ich in den frühen Morgenstunden glaube, zu ersticken. Eine Twitterin, die wegen ihres kleinen Kindes noch wach ist, spricht mir Mut zu, hält mir virtuell die Hand. Gegen halb sieben lasse ich mich von meiner Mutter in die Notaufnahme fahren, und komme sofort dran. Alle sind sehr nett zu mir. Ich inhaliere, es geht mir etwas besser. Eine schlecht gelaunte Röntgenassistentin, die extra wegen mir ins Krankenhaus fahren musste, macht eine Aufnahme, auf der man nichts erkennen kann. Ich gehe wieder nach Hause.
In den nächsten Tagen kann ich weder besser noch schlechter atmen. Aber mein Körper scheint stückweise aufzugeben: ich bekomme eine Venenentzündung am Bein, und eine Augenentzündung. Wegen der Venenentzündung fahre ich in die nächstgrößere Stadt zu einem Phlebologen. Der wirft einen Blick auf mich und ordnet ein CT an wegen Verdacht auf Lungenembolie. Das Wartezimmer der Radiologiepraxis ist brechend voll, an der Rezeption wird eine Patientin abgewimmelt, der nächste freie Termin ist im Juni. Noch bevor ich den Anamnesebogen vollständig ausgefüllt habe, werde ich zum CT geholt. Drei Minuten später liege ich halbnackt in der Röhre. Mir ist ziemlich mulmig und ich habe Angst, dass es was ernstes ist. Das ist es dann auch, denn das CT zeigt eine Lungenentzündung im rechten Lungenflügel. Es ist unklar, ob ich eine Lungenembolie hatte, die eine Lungenentzündung ausgelöst hat, oder ob die Venenentzündung durch das lange Liegen wegen der Lungenentzündung kommt. Ein Lungenfacharzt verschreibt eine Woche Antibiotikum und etwas länger Kortison. Danach bin ich einigermaßen gesund und gehe nach fünf Wochen wieder arbeiten.
Bis September werde ich mich immer etwas matt fühlen. Von den fünf Wochen zuhause hatte ich wenig, denn ich war entweder sehr krank, oder die Konzentration hat nicht gereicht, um ein Buch zu lesen oder sonst irgendetwas anspruchsvolles zu machen. Das einzig gute ist, dass ich die Musik von Billie Eilish entdecke, und jede Menge YouTube-Videos mit ihr gucke.
Was noch bleibt: die Erinnerung an das Gefühl, dass mir auf dem Höhepunkt der Krankheit alles so ein bisschen egal war. Ich meine das nicht positiv. Ich wusste, es geht mir schlecht, aber ich war oft zu lethargisch, um wirklich etwas dagegen zu unternehmen. Vielleicht ist so das Sterben: ein hinübergleiten, herausglitschen aus der Welt, das wir mit mildem Erstaunen zur Kenntnis nehmen.

Mai
Den ersten Mai verbringe ich auf meinem Balkon. Der Himmel ist strahlend blau, die Balkonpflanzen blühen bunt, alle Nachbarn sind irgendwo anders, und ich liege auf meiner Sonnenliege und schlafe ein. Schön.
Im Mai außerdem ein gelungener Kurzurlaub in Amsterdam: flämische Meister, Rembrandt, moderne Kunst, Grachten.

Juni
Ich entschließe mich dazu, einem Mitarbeiter zu kündigen, weil die Leistung nicht ausreichend ist. Ich trage mich sehr schwer mit der Entscheidung, erstelle lange Listen, ein Nerv in meinen Schultern klemmt sich ein. Am Ende des Trennungsgespräches, als die Tränen getrocknet sind, bedankt sich der Mitarbeiter bei mir. Für das gute, respektvolle Gespräch, und auch, weil die Trennung eine Erleichterung für ihn ist.
Ansonsten verbringe ich eine Menge Zeit mit Freundinnen. Wir machen Ausflüge in den Taunus oder anderswo hin, und ich esse das beste Steak meines Lebens. Es wird sehr heiß, und ich spiele Minigolf in einer klimatisierten Halle bei 38°C Außentemperatur.

Juli
Es ist zu heiß. Außerhalb des Büros liege ich viel rum und schwitze. In der Nachbarschaft gibt es eine Gartenparty nach der anderen, was mich sehr stört. Ich treffe Freundinnen in Köln, singe Karaoke und entdecke den Badesee von Novemberregen. Vielleicht der schönste Moment des Jahres, ganz sicher der schönste Moment des Sommers: wie wir stundenlang im Badesee dümpeln, eine große Ruhe innen und außen.

August
Geplant sind ein paar Tage Urlaub in Schottland mit meiner Mutter. Zum Abschluß Besuch eines Konzertes von The Cure in Glasgow (ohne Mutter, mit Kassandra). Am ersten Urlaubstag rutscht meine Mutter beim Einsteigen ins Mietauto in einem kleinen Küstenort im Regen aus. Ich laufe zu ihr und sehe, dass ihr Fuß knapp oberhalb des Knöchels schräg absteht: sie hat sich das Bein gebrochen. Ich hebe sie ins Auto, google die Adresse des nächsten Krankenhauses, fahre sie dorthin und denke die ganze Zeit, dass ich das nicht schaffe. In knapp fünf Minuten sind wir in der Notaufnahme. Ich heule ein bisschen, und sitze dann ein paar Stunden im Wartebereich rum. Meine Mutter wird gegen Abend ins Krankenhaus nach Glasgow transportiert, weil sie operiert werden muss, was hier nicht möglich ist. Ich fahre mit dem Mietwagen im Linksverkehr durch die Highlands ebenfalls nach Glasgow zurück. Es regnet, wird dunkel, und dann Nacht. Ich denke und spüre die ganze Zeit, dass ich das nicht schaffe, das es zu viel für mich ist, dass es weit über meine Grenzen hinausgeht. Im Hotel packe ich ein paar Sachen, fahre ins Krankenhaus. Meine Mutter liegt in einem Behandlungsraum, ist relativ gefasst und wird irgendwann nach Mitternacht aufgenommen. Auf dem Krankenhausparkplatz beobachte ich minutenlang einen Fuchs. Auf dem Rückweg ins Hotel biege ich auf eine riesigen, vierspurigen Straße links ab und lande auf der falschen Fahrspur. Wegen einer Betonmauer kann ich die Spur nicht wechseln. Ich bremse und fahre hundert Meter rückwärts zurück. Terror erfüllt mich, ich zittere, doch nachts um halb zwei bin ich ganz allein, weit und breit. Ich denke an den Fuchs.
Am nächsten Morgen trinke ich einen halben Liter Wasser, den ich dann direkt wieder erbreche. Ich fahre ins Krankenhaus. Meine Mutter wurde operiert, ist wach und ganz sie selbst, streitet sich mit schottischen Pflegern und sagt: ich will hier raus. Sie liegt auf einem Sechsbettzimmer, unter dem scharfen Geruch nach Desinfektionsmittel riecht es süßlich nach verwestem Fleisch. Der ADAC transportiert uns zurück nach Deutschland. Ich besorge ihr einen Rollstuhl, streite mich bis heute mit der Reiseversicherung und bin sehr dankbar, dass sie wieder gesund geworden ist. Das Konzert von The Cure habe ich verpasst, aber nicht vermisst.

September
Ich verbringe ein paar sehr schöne Tage mit Francine in Berlin. Wir gehen beide ziemlich auf Rille und sind jeden Abend früh im Bett. Ich bin sehr froh, dass wir dieses Jahr noch enger zusammengerückt sind. Anschließend verbringe ich ein paar Tage in Bassendorf. Ich schlafe jeden Tag zehn bis zwölf Stunden, erhole mich richtig gut, und genieße ein sehr gutes Essen in Binz.
Im Büro organisiere ich eine größere Veranstaltung mit weitreichenden Konsequenzen. Es gelingt mir dadurch, eine sehr volatile Situation zu stabilisieren.

Oktober
Ich feiere meinen Geburtstag, gebe wie in den Vorjahren eine Party, und bin wie in den Vorjahren von den Vorbereitungen gestresst. Ich beschließe, zukünftig meinen Haushalt besser im Griff zu haben, besser zu planen, mehr zu delegieren und mehr Hilfe anzunehmen. Die Party wird wie immer sehr schön.
Ich helfe einer Freundin, deren Katze akut krank ist und in die Tierklinik muss. Beim Abholen schreit die Katze minutenlang und krallt sich an die Freundin, als ginge es um ihr Leben. Wie sehr so ein Tier jemanden lieben kann. Wie groß die Liebe ist, und wie groß der Schmerz ist, wenn jemand leidet, den man liebt.

November
Ich mache nochmal Badeurlaub, diesmal in Abu Dhabi. Das Wetter ist wunderbar, ich schwimme stundenlang im Meer und im Pool, und habe das Gefühl, zum ersten Mal seit langem wieder so richtig fit zu sein.
Von der maximalen Erholung kehre ich in den maximalen Stress im Büro zurück: wir werden durch die Aufsicht geprüft. Das Ergebnis wird uns einen großen Teil von 2020 lang beschäftigen.

Dezember
Kurzurlaub in Dresden. Pittoresk und voller Touristen. Mir bleibt vor allem die neue Synagoge in Erinnerung: anstatt die von Semper erbaute, in den Novemberpogromen zerstörte Synagoge wieder aufzubauen, wurden links und rechts des alten Grundrisses zwei neue Gebäude gebaut: das Gemeindehaus und die Synagoge, beides sehr moderne, kubistische Gebäude. Sie teilen die Zeit in ein davor und ein danach. Ein solches Zeichen fühlt sich richtig an.
Das Weihnachtsfest verläuft zufriedenstellend; ich habe gut geplant und meinen Haushalt im Griff. Am Heiligen Abend spüre ich eine leichte Brüchigkeit in mir: die Sehnsucht nach Zeiten, die vergangen sind. Die Frage danach, ob das Leben anders besser wäre, ob ich andere Entscheidungen hätte treffen sollen. Reue ist das aber nicht, allerhöchstens ein leichter Weltschmerz, der vorübergeht. Und dann ist das Jahr vorbei. Die Erlebnisdichte war sehr hoch. Ein bisschen Langeweile täte mir gut.