Ich sitze am Esstisch von Frau Novemberregen und blogge, genauer gesagt sitze ich an der Stirnseite des Tisches mit Blick zum Fenster, links neben mir ein freier Platz, und erst dann Frau N., die ihre Füße auf den Stuhl zwischen uns gelegt hatte. Eins Komma Fünf Meter Abstand.
Frau N. ist ganz in schwarz gekleidet heute, sehr schön und trägt keine Socken. Ihre Füsse sind nackt. Ich bin auch in schwarz gekleidet, aber meine Hose hat ein feines, blaues Karomuster. Window Pane sagen die Engländer. Am Fenster von Frau N. hängt eine überraschend spießige Fenstergardine, Halbmast, die ich bereits vor einigen Jahren kommentiert habe, was Frau N. aber unberührt lies. Auf dem Tisch eine Häkeldecke, handgefertigt von der Putzfee, sowas kriegt man nie wieder los.
Frau N. tippt schon wieder sehr schnell. Sie hat ein neues Chrome Book, deshalb tippt sie jetzt leiser als vorher, aber es kommt mir noch schneller vor. Wir haben gerade gegessen, eine Platte mit Mezze aus dem Damaskus Haus, sehr gutes Hummus, perfektes Toum, zwei eher fragwürdigen Fatoush-ähnlichen Salate, solide Kibbe, sowas wie Pilaki, sowie Falaffel, die ich nicht gegessen habe. Ich finde, Falaffel schmecken immer nach frittiertem, feuchtem Pappkarton.
Ich esse übrigens nahezu alles, außer Kimchi und Fenchel.
Bevor das Essen kam, haben Frau N. und ich uns unterhalten. Bisschen überraschend, wie wir heute sofort auf die Kernthemen zu sprechen kommen, nahezu ohne Smalltalk. Frau N. ist gerade in einer besonderen Stimmung, entspannt im Urlaub, mit langen Gedanken statt den kurzen Späßen, ich mag das alles an ihr, auch ihre Wut und ihre Härte. Wir haben über Führung gesprochen, Führung, die wir bekommen, und Führung, die wir anderen geben, und wie das zusammenhängt. Ich bekomme richtig gute, hilfreiche, bereichernde Führung vom Geschäftsführer, aber nicht von meinem direkten Chef. Frau N. hat mich gefragt, bei welchen Themen mein Chef und ich zusammenarbeiten, aber mir ist nichts eingefallen. Das kann doch nicht stimmen? Mein Chef interessiert sich nicht so richtig für das, was ich mache, es läuft ja alles. Ein Stück weit kann ich das verstehen, und ich frage mich, inwieweit ich mich auch nicht interessiere für die Tätigkeiten anderer, bei denen ich weiß, alles läuft. Aber ich möchte auch wachsen, mich entwickeln, möchte Hilfestellung dazu, und das ist von der Art von Manager, die mein Chef ist, vielleicht zu viel verlangt. Und mir fällt auf, dass ich mich bereits anders organisiert habe: mit Frau N. als regelmäßiger Feedbackgeberin in ihrer Rolle als Peer, mit zwei Mentoren innerhalb meiner Organisation an einem anderen geografischen Standort, mit dem Chef meiner Fachabteilung, der in einem anderen Land sitzt, mit einem externen Coach, mit anderen Peers, mit externen Dienstleistern.
Es gibt so einen Satz in mir: mir hilft niemand – aber das wollte ich ja so. Da bin ich empfindlich, da triggert was, da bin ich noch nicht fertig mit dem Nachdenken und dem Position finden.
Mein Chef findet mich manchmal brüsk. Frau N. sagt, sie weiß genau, was er meint, aber sie findet das nicht brüsk, sondern das kommt, wenn ich eine Haltung zu etwas gefunden habe, wenn ich eine Entscheidung getroffen habe, und wenn ich nicht mehr bereit bin, mir denselben Bullshit anzuhören, immer und immer wieder.
Ihr würde auffallen, sagt Frau N., dass ich niemals leichtfertig sei. Das macht mich sehr zuverlässig, sagt sie, weil ich die Dinge genau durchdenke, eine Entscheidung fälle, und diese dann durchziehe. Das hätte – wie alles im Leben – auch eine dunkle Seite. Und ich bin kurz gerührt, warme und kitschige Gefühle durchströmen mich, weil Frau N. das so sensibel formuliert, auch in der Einleitung („das hat jetzt nichts direkt mit dem Thema zu tun, aber in dem Zusammenhang ist mir etwas aufgefallen, vielleicht hilft dir das weiter“).
Es hilft mir sehr, und ich bin überrascht, wie häufig es diese Parallelen gibt bei Frau N. und mir, wenn unabgesprochen dasselbe in unserem Blog oder unseren Gedanken vorkommt. Ich wollte heute eigentlich über das Risiko schreiben, darüber, wie risikoavers ich mich zur Zeit fühle, und dass ich mich frage, ob das so richtig ist. Jeder gute Banker weiß, dass der Gewinn nur dort entsteht, wo auch das Risiko ist.
Ich habe so wenig Risikoappetit gerade, ich will, dass alles gleich bleibt, ich möchte nichts, aber auch wirklich gar nichts ausprobieren, das ich nicht vorher genau durchdacht und die Folgen abgeschätzt habe. Da ist was fragil in mir, vielleicht so ein Grundgedanke, dass das Glück und der innere Wohlstand, die Sicherheit und die Privilegien nur eine vorübergehende Erscheinung sind, und ein Lufthauch, ein falscher Schritt, ein unüberlegtes Wort alles ins Wanken bringen könnte. Du hast jahrelang Dreck gefressen, sagt mir jemand, und ich überlege, ob die vergangenen Jahre doch schlimmer waren, als ich sie in Erinnerung hatte. Francine hat einmal das Wort Trauma benutzt.
Ich überlege, aber ich bin noch zu keiner Entscheidung gekommen, und vielleicht werde ich das auch nicht, vielleicht nehme ich es einfach so hin, und richte meinem Blick auf die nahe Zukunft, und das NEIN in mir, wenn sich ein Risiko nähert, wird irgendwann einmal schwächer.
Frau N. reicht Datteln, dick und süß und saftig. Alles ist gut.