Ego Shooter

Was mir fehlt, das ist, mich so richtig ärgern zu dürfen. Nicht nur im inneren Monolog, sondern auch nach außen. Jemandem zu sagen: „jetzt reiß dich doch mal zusammen!“, oder „so geht das aber nicht!“, oder „was hast du dir dabei eigentlich gedacht??“. Auch sowas wie „ich hätte mehr von dir erwartet“, „ich kann nicht verstehen, wie jemand wie du, der [Eigenschaft, Lebenserfahrung und/oder herausgehobene berufliche Position] besitzt, sich so verhält!“, oder „fällt dir ernsthaft keine andere Lösung ein?“, liegt mir oft auf der Zunge.

Aber so geht das eben nicht. Ich koche innerlich, mindestens ein paar Stunden, gerne auch länger. Dann stelle ich mich und meinen Ärger hinten an, und suche professionell oder – im privaten – erwachsen das Gespräch. Erfrage Gründe. „Ich würde gerne erfahren, an welchem Punkt wir unterschiedlich abgebogen sind“, „ich möchte verstehen, weshalb du dies oder jenes gemacht, dich so verhalten hast“. Öffne Perspektiven, schaffe buy-in: „für mich ist es wichtig, dass [dies und jenes]. Kannst du mich dabei unterstützen?“.

Es zählt zu den Dingen, die mich am meisten Kraft kosten. Nicht direkt und klar sagen zu dürfen, was ich fühle, was ich über jemanden denke. Es herunterschlucken müssen, verpacken, umschreiben, höchstens eine kleine Ecke hervorblitzen zu lassen, und meistens ist es genau dieses hervorblitzen, was mich am Ende in den Hintern beißt. Ich habe gelernt, dass es in der Konfliktsituation nicht besonders viel bringt, dieses jetzt sage ich dir mal, wie es wirklich ist. Es hinterläßt verbrannte Erde, es brüskiert, auch wenn es wahr ist.

Zum Glück kommt es selten vor, dass ich so wütend werde, mich so über jemanden ärgere. Das mag an einer Kombination aus einer guten Blase um mich herum und einem weichzeichnenden Blick liegen. Wohin aber mit dem Ärger? Frau Novemberregen meint, der Ärger muss raus, aber natürlich nicht gegenüber der Person, denn die Personen tun ja laut Frau N. „ihr bestes“. Auch so ein Knackpunkt, denn ich denke häufig, wenn ich mich ärgere: ich hätte mehr von dir erwartet.

Frau N. geht Treppensteigen, um den Ärger los zu werden. Ich muss mir etwas eigenes überlegen, agressiv gärtnern vielleicht, oder besonders schnell Motorboot fahren. Man versteht, weshalb die Stimmung auf den deutschen Autobahnen oft so gereizt ist, aber ich möchte dazu nicht beitragen. Computerspiel vielleicht, Ego Shooter oder Grand Theft Auto oder so. Mal sehen.

Schweißnähte

Beruflich und privat viel verhandelt, als Verkäuferin und potentielle Käuferin. Ich denke von mir, dass ich das nicht besonders gut kann: handeln, feilschen, bluffen. Auf dem Basar fühle ich mich nicht besonders wohl. Madam! Madam!, rief mir mal einer hinterher, Handbags! Gucci Prada Hermes! Handbags! HANDBAGS! Aber der Glitzer, das Gold und die Marken, das interessiert mich nicht so. Mir geht es eher um das nicht-haptische, wie Leistung, oder die großen Beträge, eine halbe Million, und dann schiebt man noch 20k links oder rechts.

Das mit dem nicht-haptischen stimmt nicht ganz, denn ich interessiere mich gerade für ein Auto, schwarz und geschwungen, geschmeidig und elegant. Ich bin dafür heute nach Mannheim gefahren, vorbei an Industrieanlagen, gewundenen Leitungen aus Metall, der Horizont verbaut mit rätselhaften Gebilden, und obendrauf brennt eine Flamme. Die Luft schmeckt ein bisschen sauer, und am Straßenrand warten die Menschen auf den Bus, oder fahren Fahrrad. Es heißt ja so schön, dass die Menschen heute entweder in einem Email-Beruf arbeiten, oder in einem Karton-Beruf, aber es gibt auch noch andere, die in großen Werksgebäuden verschwinden und dort weder das eine noch das andere tun.

Ich habe ja eher einen Email-Job, 150 sind es pro Tag, wenn es kein guter Tag ist. Aktuell habe ich eher einen Videokonferenz-Job, fünf bis sieben hintereinander, man wird dann die, die immer sagt „sorry for being late, the previous meeting has run over„, und ist ganz froh, wenn man zwischendurch mal aufs Klo kann. Die wirkliche Arbeit macht man an solchen Tagen morgens um sieben oder abends um acht.

Ich würde über mich selbst sagen, dass ich einen nicht-haptischen Job habe. Die Emails, die ich produziere, sind nicht das wichtigste, und nichts von dem, was ich tue, passt in einen Karton. Ich stelle Strategien her, ich verfolge sie, ohne nachzulassen, und ich verändere ganz leise, zart und langsam, Werte und Kultur.

Dabei hätte gar nicht viel gefehlt, und ich hätte im weißen Kittel in einem dieser Werke gearbeitet, mit einer kleinen Flamme obendrauf. Ich denke da manchmal drüber nach, an welchen Stellen mein Leben ganz anders weitergegangen wäre, wenn eine winzige kleine Veränderung passiert oder nicht passiert wäre, eine Verschiebung nach links oder rechts, wenn die Würfel ein klein wenig anders aus dem Würfelbecher gefallen wären. Vielleicht würde ich dann dasselbe Auto kaufen wollen, bei demselben Autohändler, aber ich selbst wäre eine ganz andere.

Sollbruchstellen, nannte das mal Hotelmama, ich denke eher an Schweißnähte, die die Fragmente zusammenhalten. Sollbruchstellen, Schweißnähte, eine rauhe Stelle, an der man hängenbleibt, wenn man mit dem Finger drüber fährt. Ich überlege, wo es in mir drin Schweißnähte gibt, oder bei so einem Auto, das von außen schwarz und glänzend, geschwungen und ganz glatt aussieht.

Ich kann nicht besonders gut handeln, aber ich kann gut zuhören, Pausen zulassen, etwas unausgesprochenes mitschwingen lassen, Druck widerstehen, Risiko eingehen und bin erfahren in delayed gratification. Ich glaube, am Ende werden wir beide einen guten Deal gemacht haben.

Perform or die

Sehr schlechte Tage gehabt, alles schlecht, bis auf das Licht. Am Tiefpunkt ist das Gefühl innendrin so stark, dass es sich als dumpfer Schmerz hinter dem Brustbein manifestiert. Verzweiflung & Überforderung.

Es gibt so bestimmte Fragen, zum Beispiel: bin ich depressiv? Ist das noch normal oder schon eine Suchterkrankung? Ist das ein toxisches Verhalten? Wenn man sich so Fragen stellt, ist die Antwort meistens: ja.

Außer vielleicht bei der Depression, ich glaube, das fühlt sich noch anders an, bei dem, was ich fühle, ist mir zu viel Selbstmitleid dabei, und zu viel, was von außen kommt, unter anderem ein Termin, wo ich etwas machen muss, auf das ich wirklich absolut keinen Bock habe.

Ich reflektiere ein wenig, und mache dann das Münchhausen-Ding mit dem eigenen Schopf. Ich erstelle eine To-do-Liste und einen Wecker, der erste Punkt ist: 15 Minuten liegen. Ich liegen 15 Minuten, ich atme ein, ich atme aus. Ich spüre den Schmerz, ich spüre mich, werde ruhiger, und der Schmerz weniger. Dann fällt mir tatsächlich etwas ein, das ich gerne mache, das mache ich dann, 15 Minuten lang, und dann was, das ich nicht so gerne mache, aber ein Haken auf der To-do-Liste und ein bisschen Serotonin, und so weiter, ein Schritt nach dem anderen.

Ich würde gerne einen Ratgeber schreiben, Hochfunktional durch die Depression, aber ich bin ja nicht depressiv.

Dann der Termin, auf den ich wirklich absolut gar keinen Bock habe. Es ist ein seltsamer Trost, im mittleren Alter zu sein und schon ein paar solcher Scheißtermine absolviert zu haben. Es ist Zeit, und ich performe, volles Abrufen des Leistungspotential, es ist ein Segen, es ist ein Fluch.

Ich fahre nach Hause, Autobahn, Weinberge und Wald im Abendlicht, Rücklichter, leuchtend. Ich bin so hart geworden, ich wundere mich selbst, eine knallharte Businessfrau, und innendrin ganz roh und weich. Hart, weil alles andere alternativlos erscheint, perform or die, dabei wäre der geheimste Wunsch, einmal ganz schwach zu sein, völlig zu versagen, alles fahren zu lassen und gerettet zu werden. Ich kann sie sehr gut verstehen, die Frauen, die sich fesseln lassen und an der Decke schweben. Indes, ich wollte es nie sein, sondern wollte schöne junge Männer vor mir knien und Schmerzen ertragen sehen, sie sollten leiden und ich liebte sie dafür, und so war dann in einer einzigen Szene auf einmal alles, was auch in mir drin ist.

Es war wunderbar, berauschend und groß – und ich konnte, wollte es nicht festhalten. Es krümelte mir so weg – war es mir letztendlich doch zu viel Arbeit? Vielleicht ist es das, mein großes Versagen, aber wenn ich drüber nachdenke, fällt mir sicher noch mehr ein.

Wartung & Inspektion

Urlaubstage, die nicht mit Reisen oder Feiertagen verbunden sind, nehmen stets einen seltsamen Charakter an, nämlich einen werktäglichen, wie zwei Speisen, die zu nah und zu lange unverpackt nebeneinander im Kühlschrank liegen.

Ich mache an solchen Tagen, ohne es so recht zu wollen, das, was irgendwie liegengeblieben ist: Überweisungen, Ablage, ein Bild aufhängen, Wäsche waschen, Backup des Computers, Bett beziehen, ein Geburtstagsgeschenk organisieren, einen Beistelltisch für den Balkon kaufen, die Treppe wischen. Ganz nett ist es, ohne allzugroßen Zeitdruck und nicht erst kurz vor Ladenschluss durch den Supermarkt zu schlendern.

Nehmen wir an, ich arbeite etwa 50 Stunden die Woche. Die Arbeit findet aber nicht einfach so statt, es braucht eine Art von Wartung, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Die Wartung bezieht sich auf einen rund laufenden Haushalt, der Arbeit ermöglicht, indem er mich sauber, satt, warm und bekleidet hält. Dazuhin braucht der Körper Schlaf und ein bisschen Erholung, um die Arbeitskraft zu regenerieren, vorzugsweise in einer aufgeräumten Wohnung und mit einem gut gefüllten Kühlschrank.

Aus einem bestimmten Blickwinkel scheint es mir, als würde fast die gesamte Lebenszeit für Arbeit & Aufrechterhaltung der Arbeitskraft draufgehen. Die Zeit „nur für mich“ kommen mir wie Krümel vor. Oder erlebe ich diese Zeit einfach nicht bewusst genug?

Jedenfalls. Den Urlaub auch dazu genutzt, ein weiteres Thema anzugehen, nämlich einen möglichen Autokauf. Das Auto brauche ich, um zur Arbeit zu kommen (so diese im Büro stattfindet), um meinen Status auf der Arbeit zu festigen und ein kleines bisschen auch: nur für mich.

Der erste Autoverkäufer hat das Renteneintrittsalter deutlich überschritten, lässt mich im Eingangsbereich warten, und wirkt insgesamt leicht depressiv. Die Probefahrt ist interessant, das Auto fährt spritzig, die Ausstattung und die Sicherheitssysteme finde ich allerdings etwas karg. Der Autoverkäufer bittet mich anschließend zu sich ins Büro, beide mit Maske natürlich, aber ohne Spuckschutz. Jede Fläche in seinem kleinen Büro ist mit Papieren übersäht, keine Ordnung erkennbar. Er benutzt einen Wochenkalender gespickt mit gelben Post-Its, darauf die personenbezogenen Daten der Kaufinteressenten. Der Computer sieht eingestaubt aus, die Tastatur klebrig. Email läge ihm nicht so, sagt er. Neben einem Osterhasen und mehreren Schoko-Ostereiern liegt ein großer Schokoweihnachtsmann. Es ist alles aus der Zeit gefallen, und wirkt wie eine kurze Szene aus einem großen Roman, deren Hauptfigur nicht ich bin.

Der zweite Autoverkäufer macht es geschickter, erwartet mich im Eingangsbereich, gut gelaunt und jovial. Das Auto ist luxuriöser, besser ausgestattet, mit einer Menge fürsorglicher Sicherheitssysteme, aber ohne die Spritzigkeit des ersten Wagens. Ein bisschen zu groß, eigentlich, aber sehr akkurat bei niedrigen Geschwindigkeiten, und bei hohen ruhig wie Segelboot bei glatter See. Der zweite Autoverkäufer hat kein eigenes Büro, sondern einen Schreibtisch in einer Ecke der Verkaufshalle, er bietet mir einen Kaffee an, den ich aus COVID-19-Gründen natürlich ablehne. Der Spuckschutz aus Sperrholz und Klarsichtfolie bricht das Corporate Design der Verkaufshalle auf beinahe erfrischende Art. Der Autoverkäufer und ich plaudern ein wenig, er druckt mir ein Angebot aus, das war’s, und ich sage danke und werde ein bisschen nachdenken.

So richtig scharf darauf, mir ein Auto zu verkaufen, war keiner von beiden. Ist das die derzeit angesagte Verkaufsstrategie, oder haben sie einfach gewartet, bis der Termin vorbei ist und sie wieder Zeit haben für anderes, oder sich selbst?