Mich entspannt, sicher und vor allem gelassen gefühlt in Situationen, die ich vor nicht allzu langer Zeit schwierig gefunden hätte. Woher kommt das? Das Alter? Der vergrößerte Erfahrungshorizont? Die Arbeit am Selbst?
Die Frage werde ich wohl im Rückblick beantworten können, wenn ich weiß, wie lange es hält.
Archiv des Autors: fragmente
Walzer
„Was habt ihr eigentlich damals so unternommen, bevor ihr geheiratet habt?“, frage ich meine Eltern.
„Ach“, sagen sie, „was man eben so macht. Spazieren gehen, Kaffee trinken, ins Kino, tanzen gehen… einmal waren wir auf einem Fest und haben Walzer getanzt, einfach so, obwohl gar keine Musik spielte.“ Und sie lächeln und leuchten.
(ohne Titel)
Ein guter Tag. Weinberge, Sonne, meine Eltern. Sind die guten Tage nur eine Vorauszahlung, ein Kredit, den man mit Zins und Zinseszins und tausend bleiernen Tagen zurückbezahlen muss? Ein Ausschlag der Hirnchemie nach oben, bevor es wieder steil nach unten geht?
Nicht drüber nachdenken. Leben.
Glücklich sein gibt keine gute Geschichten. Sorry.
Heute für einen Moment glücklich gewesen.
Manchmal bin ich für einen Moment glücklich, wenn ich von der Arbeit zur U-Bahn laufe: ich spüre ddie Stadt um mich herum, eine geschäftige Metropole; blaue Stunde, die Lichter gehen langsam an und die Türme leuchten; ich rieche den Asphalt und höre das tock tock tock meiner Absätze, und bin ganz da.
Heute fuhr ich im Auto, es war früher Nachmittag, die Sonne schien, der Himmel ganz blau, das erste satte Frühlingsgrün der Wiesen, in meiner Nase der Ledergeruch des Autos und im Radio ein guter Song, und ich war glücklich.
Ich bin überdurchschnittlich oft glücklich, wenn ich unterwegs bin. Es ist diese Art von Unterwegssein, die nichts von einem fordert, außer unterwegs sein: keine Termine, kein Zeitdruck, keine Hektik; keine innere Vorbereitung auf das, was einem am Ziel erwartet. Man kann gar nichts anderes tun.. außer zu sein.
Und ich bin dann einfach, bin glücklich, spüre meine Sinne und eine gewisse Dankbarkeit, weil mir mein Leben priviligiert vorkommt, und weil ich dankbar bin, es leben zu dürfen.
die Stille
Ich liebe meine Wohnung. Das Parkett, der Balkon, die Nachtmittagssonne, die großen Fenster, das frisch renovierte Bad, der Aufzug, warmes Wasser, gute Heizung.
Was ich aber am allermeisten liebe, das ist die Stille. Es gibt sicherlich stillere Orte, aber mir kommt es still vor. Die Straßenbahn hört sich an wie ein Rauschen, und dazwischen ist es so still, dass ich den Lüfter des Notebooks höre oder den Kompressor des Kühlschrankes. Am schönsten ist die Stille, wenn ich sie nicht höre, weil ich schlafe. Kein Basswummern von HipHopBaby, kein Fernseher der Alkoholikerin, keine Polizei mehr, auch kein stilles Erdulden, keine Furcht mehr.
Seit einigen Wochen höre ich aber auch in der neuen Wohnung etwas. Ich höre eine Frau beim Sex. Sie sagt: „es ist so geil! Ja! So geil ist das! So geil! Ja! Das ist so geil!“. Wenn es besonders geil ist, erzählt sie es fünfundvierzig Minuten lang, ohne Pause. Manchmal stöhnt sie auch ein bisschen. Einen Mann hört man nie. Welche Nachbarin das ist, blieb mir bislang verborgen, auch, warum man den Mann nicht hört. Oralsex? Für einen Pornofilm variiert es zu sehr. Eine Webcam oder Telefonsex? Es bleibt ein Rätsel. Nur eines weiß ich: sie begehren einander ziemlich oft – nachts um halb zwei, morgens um fünf, vormittags um neun. Nicht jeden Tag, aber gelegentlich mit nur ein paar Stunden Abstand. Manchmal wache ich auf, das T-Shirt halb hochgeschoben, und höre sie. Manchmal denke ich an Schultern, Schlüsselbeine, Hände zwischen meinen Beinen, und höre sie. Und manchmal fühle ich mich allein, wenn ich sie höre, während ich im Bett liege, der Wand zugewandt, aber meistens muß ich schmunzeln, und kann es ganz gut aushalten.
Es ist eben nichts perfekt, auch nicht die Stille.
Drei Tage, drei Ideen
1) Woher kommt das Bedürfnis, zu prokrastinieren, Dinge aufzuschieben?
Prokrastination ist ein fast schon im Übermaß durchgenudeltes Thema. Dieses Erklärungsmodell kannte ich noch nicht: als Erwachsene/r fehlt uns eine autoritäre Figur, die von uns bestimmte Dinge verlangt – zum Beispiel schreiben. Dabei stimmt das gar nicht: natürlich gibt es jemand oder etwas, dem sich jeder von uns beugen muss: der Zeit. Einen ähnlichen Gedanken hatte ich hier schon geäußert, ich war aber zu ironisch in meiner Haltung, um es ernst zu nehmen und annehmen zu können.
Von der Erkenntnis zur Veränderung ist es ohnehin ein weiter Weg. Vielleicht sollte man regelmäßig vor dem Rechner knien wie vor einem Altar, das Haupt beugen, Demut üben. Die meisten Schreibenden kennen den permanenten Drang, das Textdokument zu verlassen und im Internet zu surfen. Warum ist es so schmerzhaft, zu schreiben? Weil das, was man in Bits und Tinte festhält, niemals so gut sein kann wie das, was man im Kopf hat oder im Herz, wie die Vorstellung von der Geschichte, die man erzählen will? Wie mag es da erst den Filmschaffenden gehen… Ich versuche, zu üben, den Schmerz auszuhalten, zu umarmen, ihn mir wie eine Wolke vorzustellen, zu deren Mitte ich mich bewege. Bislang funktioniert das, und je mehr ich tippe, desto peripherer wird der Schmerz.
2) das Konzept des Schatten
Der Schatten ist ein Teil des Selbst, in dem sich alle negativen Eigenschaften, alle Schwächen und Makel eines Menschen konzentrieren, und den man vor anderen zu verbergen versucht. Gleichzeitig ist der Schatten eine Verbindung zum Unterbewusstsein und verwebt mit Kreativität und Lebendigkeit. Wer seinen eigenen Schatten kennt, schreibt besser Geschichten: Geschichten, die berühren, Tiefe besitzen und bei vielen Menschen Resonanz finden, weil sie von Archetypen erzählen.
Eine dieser Geschichten ist Ursula K. Le Guin’s „Erdsee-Zyklus“: der Zauberlehrling Ged öffnet ein verbotenes Buch, daraus entschlüpft ein Schatten, der nur unter größter Anstrengung von einem Meister zurückgedrängt werden kann. Der Zauberlehrling lernt, wird erwachsen und geht schließlich hinaus in die Welt, um Aufgaben zu meistern. Über allem scheint immer der Schatten zu liegen, eine kaum auszublendende Bedrohung. Eines Tages beschließt Ged, den Schatten zu konfrontieren und zu besiegen. Die beiden jagen einander um die halbe Welt. Schließlich können sie einander nicht mehr entkommen, und Ged gibt dem Schatten seinen eigenen Namen. Er erkennt, dass es sich um einen Teil von sich selbst handelt, und sagt: „ich bin [nun] ein ganzer Mensch, ich bin frei“.*
C. G. Jung, von dem das Konzept des Schattens stammt, begreift die Integration des Schattens in die Persönlichkeit als wichtiges Ziel innerhalb der analytischen Psychologie.
Der Therapeut Barry Michels arbeitet schwerpunktmäßig mit Drehbuchautoren aus Los Angeles. Deren höchste Hürde ist es, ihre Idee für einen Film oder eine Fernsehshow vor Produzenten zu pitchen. Michels schlägt folgende Übung vor:
To help a patient avoid freezing during a pitch—a problem that Michels attributes to trying to hide your Shadow from development executives—he’ll tell him to reassure his Shadow with the words “I love you and I care more about you than I do whether this pitch sells.” That is step one. Then he must invite the Shadow into the conference room, so that together they can address a silent scream—“Listen!”—to the assembled suits. “What it does is assert our—me and my Shadow’s—authority and right to have something to say,” Michels says. The third step takes place afterward, when, regardless of the outcome, the patient thanks the Shadow for its time, so that it knows the ego wasn’t just using it to get money. For writers, the analogy is clear: give the Shadow the respect you long for.
3) Part X
Part X beschreibt jenen Teil der Persönlichkeit, der voller Arroganz, Hypersentitivät und Launenhaftigkeit ist, der will, dass die Welt genau so ist, wie er sie haben will. Der innere Zweijährige, der Wutanfälle bekommt, weil der Trinkbecher nicht die richtige Farbe hat – es fallen einem zahlreiche Hollywoodpersönlichkeiten ein, die einen starken Part X haben. Warum eigentlich? Macht Part X die Menschen erfolgreicher, oder stärkt der Erfolg den Part X? Die meisten von uns müssen sich nämlich irgendwann damit abfinden, dass die Welt nicht so ist, wie wir sie haben wollen. Aber auch ohne ein Hollywoodstar zu sein, kenne ich die Wutanfälle des inneren Zweijährigen: kraftzehrend und völlig sinnlos. Michels meint, Part X sei der Teil in uns, der sich der Veränderung verweigert. Auch gut zu wissen.
Drei Tage, drei Ideen, die ich interessant finde und die viele neue Fragen aufwerfen.
Quellen:
Dieser Eintrag beruht in großen Teilen auf „Barry Michels, Therapist for Blocked Screenwriters“ und zitiert teilweise wörtlich daraus.
Der Erdsee-Zyklus von Ursula K. Le Guin ist bei Amazon zu finden und bei Wikipedia erklärt.
Der mit * bezeichnete Satz ist aus der 5. Auflage des bei Heyne erschienenen Sammelbad „Erdsee“ zitiert.
dreimal
Heute und morgen blogge ich nichts, dafür am Samstag eine dreifache Geschichte.
die Pizza-Story
In den meisten Abteilungen an den meisten Arbeitsplätzen der Welt ist es üblich, daß, wer Geburstag hat, einen ausgibt. Bei Ruth wird immer gefrühstückt, andernorts gibt es womöglich Alkohol (Sekt! Bier!), bei uns gab es in der Regel Kuchen, manchmal auch Lunch. Mit dem trockenen Kuchen meines Chefs war ich schon recht vertraut, bis er eines Tages beschloss, keinen Kuchen mehr zu backen – zu viel Arbeit, zu wenig Zeit. Ich hätte es in Ordnung und irgendwie auch ehrlich gefunden, wenn der Chef einfach verkündet hätte, daß er keinen Kuchen mehr ausgibt, er ist schließlich Chef und wir sind nicht alle gleich. Indes, er beschloß, statt Kaffeekränzchen seinen Geburtstag mit einem Lunch zu feiern; zu diesem Anlaß sollte Pizza bestellt werden. Wir freuten uns. Der große Tag kam, wir durften Pizza bestellen – allerdings jeder nur ein Viertel. Dem Chef, der etwa das fünffache von uns verdiente, wäre es sonst zu teuer geworden.
An die Pizza-Story mußte ich gestern denken. Mein neuer Chef hatte Geburtstag und hatte Kuchen gekauft. Wir sind jetzt etwa 30. Es war guter Kuchen, es war genug für alle da und es war eine nette, normale Geste.
Mein Coach hat mich immer gebremst, wenn ich eine dieser Stromberg’schen Geschichten von meinem Chef erzählt habe, voll Wut und Verachtung und Lächerlichkeit. Es ist einfach, solche Geschichten zu erzählen, aber es macht es nicht einfacher, mit einem solchen Chef zusammenzuarbeiten, und auch nicht, sich auseinanderzusetzen mit dem, was war. Und auseinandersetzen muß ich mich, will ich mich, früher oder später, bis ich eine Pizza sehen kann und mich nicht mehr daran erinnere, daß man sie vierteln kann.
vor einem Jahr
Ich ging mit meinen Eltern durch einen Wald, der noch nicht grün war, die Bäume kahl, der Vorfrühling mit harter Hand zurückgehalten. Ich fühlte mich sehr nackt – keine Arbeit, kein Geld, vielleicht auch bald keine Wohnung mehr; keine Kategorie, in die ich mich einordnen konnte; kein Label, das meine Identität festlegt. Und dann, ganz plötzlich, empfand ich alles sehr intensiv: die Luft, die Geräusche, die ausgewaschenen Farben, den federnden Boden unter meinen Füßen. Ich spürte eine große Lebendigkeit in mir, eine große Freiheit – kein Halt mehr, aber auch nichts, das mich einengt, und für einen Moment war mir alles klar:
was das alles soll, und warum ich hier bin.
Fehlentscheidungen
Die sauteuren Tomaten, die nach Pappe schmecken. Die Schuhe, die ich nie trug; das Buch, das ich nie las. Die U-Bahn, die ich hätte erwischen; den Anruf, den ich hätte machen sollen. Die Flasche Wasser, die mir fehlt, den Pullover, den ich zu viel trage. Die Verabredung, der ich zu- oder absagen hätte sollen.
Kleine Fehlentscheidungen, die ich jeden Tag treffe. Seitdem ich beginne, darauf zu achten, sehe ich sie überall, und sie ärgern mich, aber sie stimmen mich auch milde gegenüber all den großen.