Lektionen

Erst ging es um Demut, jetzt um Ablehnung: Lektionen, die mir das Leben scheinbar stellt. Ich bin froh, daß ich den Umgang mit Ablehnung schon üben konnte: es kommt mir alles so bekannt vor. Ich warte auf den Telefonanruf eines Unternehmens, so wie ich früher wartete, daß mich ein Mann anruft. Der dicker Briefumschlag mit meinen zurückgesendeten Bewerbungsunterlagen trifft mich genauso unvorbereitet, wie der plötzliche Blick auf einen Mann, um dessen Interesse ich mich beworben habe, und der nun eine andere küsst. Das Lesen einer Stellenanzeige ist wie ein kurzes Kennenlernen, nachdem ich denke, daß wir zueinander passen, daß ich ihm viel zu bieten habe, aber er sieht mich einfach nicht.
Ich will nicht larmoyant sein. Ich werde gesehen, es gibt Menschen, die mich sehr schätzen, die mich aufrichtig und ehrlich mögen. Manchmal bin ich ganz verwundert ob diesem kostbaren Glück. All is full of love.
Und überhaupt: es geht auch ohne Mann, Lektion gemeistert, schon längst falle ich nicht mehr in das Loch, in die Leere dieser Absenz.
Es würde auch ohne Arbeit gehen, rein theoretisch, zumindest ohne bezahlte. Es gibt andere Arbeit, die die Hände und den Geist beschäftigt halten: Nachhilfe geben, Tierheimhunde ausführen, schweißen lernen und russisch. Aber vieles würde mir fehlen: das sich Reiben an anderen, die Herausforderung, der man sich nicht entziehen kann, das Wachsen an Aufgaben, die zu stellen man selbst nie auf die Idee gekommen wäre. Ich will nicht noch ein Loch. Ich will kein Schweizer Käse werden.

Am Bahnhof

Von Crush geträumt.
Ich bin an einem großen Bahnhof und sehe ihn in der Ferne davonhasten. Rasch verabschiede ich mich von meiner Begleitung und laufe ihm hinterher. Wie immer hat er es eilig. Er verschwindet in einem Bauwagen. Ich stecke den Kopf zur Tür hinein und sage: „lange nicht gesehen..“. Wir wechseln ein paar Belanglosigkeiten. Er erzählt, daß er jetzt Schauspieler sei, gerade in einer deutschen Kinoproduktion mitgewirkt habe. Der Titel kommt mir vage bekannt vor. Mir fällt auf, daß er ein wenig anders aussieht. Seine Haare haben immer noch jene Farbe von dunklem Honig, die mich so fasziniert. Aber er hat das hagere, immer leicht nach vorne gebeugte, unsichere verloren.
„Wollen wir eine rauchen gehen?“, frage ich. Ich rauche nicht. Wir gehen nach draußen, laufen um den Bahnhof herum. Ich bin gänzlich nackt. Dunkel hebt sich der Busch meiner Schamhaare von meiner weißen Haut ab. Es ist mir ein bisschen peinlich, nackt zu sein, aber es gibt dafür eine völlig normale, rationale Erklärung. Crush legt den Arm um mich, und ich schmiege mich an ihn. Freundschaftlichkeit statt der Möglichkeit eines Paares.

Dann gehen wir beide unserer Wege, wie das an Bahnhöfen eben so ist.

Geben und Nehmen

Ich sitze in meinem Auto vor dem Parkplatz von Lidl und tippe eine SMS an mein Date. Gesprächsfetzen dringen zu mir: ein Mann bittet eine Frau um Geld – er sei obdachlos, beziehe keine Leistungen vom Amt – und sie lehnt wortreich ab.
Es ist ein Mann mittleren Alters, relativ gepflegt in roter Weste, seine Aussprache klar und gebildet. Als ich mit meinen Einkäufen zurückkomme, spricht er auch mich an, und ich gebe ihm eine Münze. In ihm leuchtet etwas auf, als hätte ihm schon längere Zeit niemand mehr etwas gegeben. Er beginnt ein Gespräch mit mir, versucht es jedenfalls: so ein schönes Auto, meint er, fährt bestimmt ziemlich schnell, und wofür steht das seltsame Autokennzeichen? Ich lächle und antworte sehr knapp. Was soll ich auch sagen? Alles Fassade: das Auto gehört meine Mutter, und ich trage ein Jackett und meinen Doktortitel. Gestern war eine Absage auf eine meiner Bewerbungen in der Post.

Es heißt, das schlimmste an der Obdachlosigkeit sei die Einsamkeit. Vielleicht geht es den Menschen, die betteln, nicht nur um Geld, sondern auch um den Kontakt, um ein Gespräch, um Aufmerksamkeit und menschliche Wärme. Es fällt mir leicht, eine Münze zu geben, aber mit allem, was darüber hinaus geht, tue ich mich schwer: ich bin geizig.

Seit ein paar Wochen bin ich raus aus dem Job. Manchmal bin ich mehrere Tage hintereinander allein. Ich finde das schön und bin überrascht, wie leicht mir die Einsamkeit fällt.

„Du magst also Kuchen!“, sagt mein Date. Wir essen Pflaumenkuchen. „Das ist nicht so ganz richtig,“ antworte ich. „Ich mag manchmal Kuchen, zu bestimmten Gelegenheiten. Eigentlich eher selten.“

Was ist mein Kuchen, und was ist mein täglich Brot?

Am Morgen, als die Sonne schon ins Zimmer scheint und ich den Wecker bereits ausgestellt habe, träume ich. Ein Alptraum. Ich träume von Würmern, Maden, halb durchsichtige Parasiten, die sich über den Boden schlängeln, auf mich zu. Ich bin barfuß. In Panik und Verzweiflung versuche ich zu entrinnen, aber es gibt kein Entkommen, und die Parasiten bohren sich in die Haut meiner Füße, die mein Date so gerne küßt.
Ich zwinge mich mit aller Macht, aufzuwachen, und finde mich doch nur in einem weiteren Traum wieder.

unterm Bett

Seit einigen Wochen räume ich meine Wohnung auf. Erst den Keller, dann die Küche, dann das Gerümpel im Wandschrank und jetzt die Schachteln und Kisten hinter der Tür und unterm Bett. Wegwerfen, aussortieren, umräumen. Es ist mir ein inneres Bedürfnis – ein Bedürfnis nach Reinigung, Neuordnung, Geradlinigkeit.

Manchmal finde ich unerwartetes in den Schuhkartons meiner Erinnerung: einen kleinen Zettel zum Beispiel, auf den meine erste Liebschaft seine Adresse geschrieben hat. Die Tinte ist schon ganz verblasst, so wie am Ende das meiste verblasst und dann leise verschwindet.

letzte Dinge

Das Büro ist so gründlich ausgeräumt, es gibt nicht einmal mehr einen Stift. Nur der Standventilator steht noch in der Ecke. Mein letzter Tag ist schon ein paar Tage her, aber mein Projekt ist gerade eben erst fertig geworden, nach langem Ringen. „Tschüss“, hat der Chef gesagt, mehr nicht, zum Abschied so kühl, wie ich es aus den letzten Jahren gewohnt sein müsste. Wir haben uns nicht beieinander bedankt.
Ich lösche meine Passwörter, fahre den Rechner herunter, packe ein paar Daten-CDs und meine Schlüssel (Türen, Spind, Schreibtischelement) in einen Umschlag. Es ist spät, aber eine Kollegin ist noch da, sie bleibt heute bis neun, sagte sie. Ich gebe ihr den Umschlag und den Stift, den ich mir von ihr geliehen habe, in ihrem Lächeln ist Wärme und Sympathie. Wenigstens zusammengehalten haben wir immer. (Später wird mich noch meine Lieblingskollegin anrufen und mich fragen, wie es mir geht.)

Als ich das Gebäude verlasse, klatschen die ersten schweren Tropfen des nahenden Sommergewitters auf den Boden. In mir kommt Ärger auf. Ich kriege den Ventilator nicht ins Auto und werde zunehmend nass. Schließlich fahre ich los, bis mich der Regen zum Anhalten zwingt. Der Himmel ist dunkel, die Bäume biegen sich im Wind, das Wasser steht auf der Straße, füllt die Gullis, und ich wünsche mir, daß der Regen alles wegwäscht.

Es braucht einen Abschied für einen Neubeginn.

(Anderswo: Abschiedsrede.)

(ohne Titel)

Ich träume, daß es an der Haustür läutet. Ich lehne mein Ohr an die mahagonifarbene Türe meines Elternhauses und rufe: „wer da?“. Ich höre nur Gemurmel und entschließe mich, die Tür einen Spalt zu öffnen. Sofort drängen zwei stämmige Gangster hinein. Ich lehne mich mit aller Kraft gegen die Tür – ein Kampf, den ich verlieren werde. Mein Hund bellt laut und wütend, wirft sich in das Getümmel und beißt die Männer. Da merke ich, daß es im Obergeschoß brennt. Die Flammen schlagen bis an die Decke, ich kann die Hitze spüren. Ich halte ein Telefon in der Hand, wähle 110 und die Feuerwehr meint, sie schaut dann mal vorbei. Wenn sie Zeit haben.
Mein Hund und ich stehen im brennenden ersten Stock. Eine schmale, wacklige Treppe führt ins Erdgeschoß und ich weiß, der Hund kommt da nicht alleine hinunter. Ich muß den Hund retten und verzweifle fast bei dem Gedanken, dies könnte mir mißlingen. Ich liebe den Hund, und der Hund liebt mich, aufrichtig und intensiv. Ich hebe den Hund hoch – ein schwerer deutscher Schäferhund – und trage ihn die schmale Stiege hinunter. Meine Bandscheiben knarzen, jeder Tritt ist wacklig.
Das Erdgeschoß ist von jeder Menge Krimineller, Gesetz- und Obdachloser bevölkert. Die Haustüre steht ja offen. Eine toughe junge Frau, respekteinflößende Anführerin einer Gang, kommt auf mich zu und fordert meinen Hund, dessen schwarzes, seidiges und glänzendes Fell meine Hände gerade streicheln. Ich kann das keinesfalls zulassen, obwohl ich große Angst habe, also nehme ich den Kopf der Frau in den Schraubstock meiner Arme und versuche, ihr mit einer Drehung das Genick zu brechen. Ihr Hals ist zäh wie Gummi.
Ich wache auf. Mein Elternhaus ist seit letztem Jahr verkauft, der Hund seit zehn Jahren tot.

„Der Traum zeigt eine Verwandlung oder Aggression an, die nicht ausgelebt werden kann.“, meint Twitter.

Ich glaube, es geht mir zur Zeit schlechter, als ich es mir eingestehen will.

(ohne Titel)

Seit ungefähr einem halben Jahr nicht mehr geweint.

Nicht, daß es keine Gelegenheiten, keine Gründe gegeben hätte. Die Tränen und der Rotz und die Bitterkeit kommen hoch, und dann schlucke ich sie einfach wieder runter. Mag am Alter liegen.

Dabei wärs gar nicht so schlecht, es laufen zu lassen. Erst ein Leck und ein Rinnsal, dann ein Bach, ein Fluß, ein Strom.
Kein Druck mehr auf den Mauern. Alles leer. Glatter, feiner Sand, eine ebene Fläche, auf der es neue Spuren zu hinterlassen gilt.