(ohne Titel)

Alles läuft nach Plan. Ich fahre über Düsseldorf nach Mannheim, dann mit einem Bummelzug durch die Provinz und schließlich mit meinem gefährlich nervösen Vater am Steuer über die Dörfer. Der Klinikkomplex liegt auf einer Anhöhe im Nirgendwo. Meine Mutter ist blaß und leicht gelbstichig, aber wach, ansprechbar, außergewöhnlich sanft und im Großen und Ganzen sie selbst. Ich strahle übers ganze Gesicht. „Du siehst so gut aus!“, sagt sie. Ich habe mich bestmöglichst angezogen: schwarze Bluse, grau-glänzende Hose mit feinen Nadelstreifen, Perlenohrringe, einen Ring, Lippenstift. Ich wollte seriös aussehen, damit mich Ärzte und Krankenschwestern ernst nehmen.

Wenn Blogger über ihre Kinder schreiben, dann schreiben sie oft deren Alter in Klammern dahinter: z.B. Paul (9). Wenn Blogger über ihre Eltern schreiben, nennen sie oft das Geburtsdatum.
Zum Beispiel mein Vater (*1935). Mein Vater ist auf liebenswerte Weise exzentrisch. In letzter Zeit war ich ein wenig besorgt, weil seine Zerstreutheit zunahm: manchmal erzählte er mir etwas, ohne es in einen Kontext einzuordnen, er begann Geschichten, ohne den Spannungsbogen zu beenden. Das ist besser geworden, und so konnten wir uns über viele Dinge austauschen. Quality time.

Und so bin ich glücklich: weil es meinen beiden Eltern gut geht, weil der Abschied, den wir unausweichlich voneinander werden nehmen müssen, noch ein wenig hinausgeschoben wurde. Weil dieser Trip nach Schwaben so unverhofft leicht und unbeschwert war. Im Zug lasse ich die Landschaft an mir vorbeiziehen und schaue der Sonne beim Untergehen zu, Musik im Ohr. Alles ist gut.

bahn

Pläne

Gestern mit meiner Mutter telefoniert. Zum Abschied sagte sie:

Machs gut, bis wir uns wiedersehen.

Sie kriegt morgen ihr zweites künstliches Hüftgelenk. Ich fahre zu ihr und bin – so der Plan – genau zum Zeitpunkt ihres Erwachens aus der Narkose da.

Ihr Satz hat mich ein wenig erschreckt. Ich habe dann nochmal nachgeschlagen, weil ich glaubte, es wäre ein Zitat aus einem Stück von Shakespare. Der läßt nämlich Julia zu ihrer Mutter sagen:

Gott weiß, wann wir uns wiedersehn.

Das ist nicht das gleiche. (Wie es für Julia ausging, wissen wir ja.)

warum eigentlich Südamerika?

Hagen Boyle ist ein Spieler. Eine gescheiterte Beziehung hat ihn dazu gebracht, aus seiner bürgerlichen Existenz nach Südamerika auszubrechen, wo er in zweit- und drittklassigen Casinos Poker spielt. Meistens verliert er.
Am Spieltisch trifft er June, fällt erst in ihre Arme, dann in zwielichtige Geschäfte und schließlich in sein Verderben. Das Cover von „jenseits der Feinde, nahe dem Meer“ zeigt einen Haifisch, der auf den Betrachter zuschwimmt – nur noch einen Moment, dann wird sich das Wasser rot färben. Genau um diese kurze Zeitspanne vor dem Ende geht es in diesem Buch. Hagen Boyle analysiert präzise und genau die Geschehnisse und seine Situation und ist doch nicht in der Lage, die richtigen Schlüsse zu ziehen und sein Unglück abzuwenden – genau wie beim Pokern: er kennt die Stärken und Schwächen seines eigenen Blattes, kann die Karten der Gegner abschätzen, und doch: ein Sieger ist nur jemand, der gerade nicht verliert.

„Jenseits der Feinde, nahe dem Meer“ ist eher ein Manuskript denn ein Buch. Bei Book on Demand erschienen, nerven gelegentlich Tippfehler; auch inhaltlich ist die Geschichte nicht ganz rund. Einzelne Episoden hingegen sind brilliant und begeistern durch ihre Detailschärfe – in Pappe eingepackte Kreditkarten, das Spiel, der Puff, das große Finale. Gürteltaschen.
Leogrande hat Stil und erzählt so schonungslos, ehrlich, messerscharf und so kraftvoll, daß es einen manchmal umhaut.

Amazon
Google Books
Jörn Leogrande
ältere Geschichten von Leogrande via archive.org

feinde

(Hier ruiniert sich gerade jemand anderes in Südamerika.)

Übrigens…

– The Cure sind auf Tour
– die Tour ist ausverkauft
– das Konzert in Berlin (16.2.) wurde von der Arena ins Velodrom verlegt und es gibt jetzt wieder Karten.

Leider ohne mich, weil:
– zu viel Streß
– ich habe sie schon siebzehn Mal live gesehen
– keine neuen Songs
– da ziehe ich mir doch lieber den Livemitschnitt aus dem Internet.

Zum achtzehnten Mal werde ich sie dann wahrscheinlich mit Ruth in Oberhausen sehen. Aufgrund meines fortgeschrittenen Alters erwäge ich den Kauf von Sitzplätzen (!). Ewähnte ich schon, daß die Tickets ausverkauft sind? Hallo, Schwarzmarkt. (Wer welche übrig hat: frau_fragmente bei yahoo.de).

Was wollte ich sagen? Es gibt noch Karten für nächsten Samstag. Live sind sie großartig, auch oder vielleicht vor allem mit ihrem alten Material. Dieser Beitrag existiert eigentlich nur, um mich zu rechtfertigen, weil ich mir diese Chance durch die Lappen gehen lasse. Machen Sie es besser!

genug.

1. Mache ich meine Arbeit gut genug? Bin ich fleißig genug? Bin ich belastbar genug? Bin ich klug genug? Bin ich verläßlich genug? Trage ich genügend zur Wertschöpfung bei? Kann man mir vertrauen? Kann man mir schwierige Aufgaben anvertrauen?

2. Bin ich Frau genug?
Bin ich Frau genug, als daß ein Mann mich lieben kann?
Bin ich schön genug, um gefickt zu werden? Habe ich genug Erotik, um einen Mann darin ertrinken zu lassen? Habe ich genug Weiblichkeit, damit ein Mann sich mit mir fühlen kann, als wäre er angekommen?

3. Bin ich als Tochter gut genug? Bin ich als Schwester gut genug? Bin ich als Freundin gut genug?

4. Wenn die Antwort nein lautet, was dann?
Was, wenn ein Teil dessen wegbricht, aus dem man seine Identität baut?

[Nachtrag:] 5. Erwartungshaltungen waren schon vor Jahren Thema.

fast real

Ich sitze in meinem Büro, es ist nachts um halb vier. Dann stehe ich auf, gehe durch die Tür und streife durch die Gänge. Das Gebäude ist eine Verschmelzung aus allen Orten, an denen ich gearbeitet habe. Alles ist fast real: der Ort, die Zeit, die Atmosphäre, die Tätigkeiten – nur knapp vorbei an dem, was wirklich ist.
In der Ferne kreuzen Menschen meinen Weg, ihr Ziel fest vor Augen. Dann, plötzlich, der junge Mann, den ich letzte Woche im Rahmen einer Schulung unterrichtet habe. Er trägt diesen weinroten Pullover, darüber einen Laborkittel, sein halblanges Haar ist wild und zauselig. Aus den zwanzig Schülern hat er herausgeragt: er kann nicht zeichnen, aber er hat Humor und Grips. In mir flattert was.
Ich gehe wieder zurück in mein Büro, blicke auf den Monitor. Es klopft an der Tür. Es ist der junge Mann. Entschlossen, ernst und ruhig sagt er zu mir, daß er es nicht mehr aushält. Wir müssen einfach zusammen sein!
Einen Moment später liegen wir überraschend weich auf dem graugemusterten PVC-Boden meines Büros und küssen uns. Wir genießen es, einander langsam auszuziehen, die Stoffe wie Schleifen aus Satin, die zärtlich aufgezogen werden. Er deckt mich mit dem Laborkittel zu und ich lasse meine Hand über seine Haut gleiten, bin fasziniert von der Textur und der Wärme, als hätte ich Jahrzente keinen Menschen mehr berührt. Dann habe ich seinen Schwanz in meiner Hand, in meinem Mund, in mir. Was für ein Glück, denke ich.

Als ich am nächsten Morgen in mein Büro komme und den PVC-Boden sehe, werde ich ein wenig rot.
Zum nächsten Schulungstermin kommt der junge Mann zu spät. Er trägt einen blauen Kapuzenpullover. Ich rufe ihn an die Tafel, er muß eine Aufgabe lösen. Natürlich kann er die Aufgabe, er ist schließlich clever, aber er fühlt sich trotzdem gestraft. Und wie immer sind meine Worte zu scharf, mein Humor zu trocken… Distanz ist richtig, Distanz ist gut.
Als er mir die Kreide zurückgibt, berühren seine Fingerspitzen kurz meine Handfläche. Das war das.