mein 2006

war eigentlich ganz okay. 2005 war ein wenig schlechter, 2004 hingegen ein Jahr der offenen Wunden.
2006 war das Jahr der Komfortzone, aus der ich mich nur selten hinausbewegt habe. Du hast dich gut eingerichtet, sagte Ruth einmal. Im Leben, in der Arbeit, in der Wohnung.
Tiefpunkt war eindeutig der Streit mit meinem Vater im Frühjahr. Das beste an 2006 ist die wiederbelebte Freundschaft mit Ruth.
Doch selbst dem alljährlichen Sex fehlten die Extreme: man genießt, solange es geht, und wenn die Trennung kommt, tuts weh – aber überrascht ist man nicht. Und die Zeit geht dahin.
Vielleicht gab es einfach schon genug Leid in den vergangenen Jahren – Tage, an denen das Herz schmerzt bei jedem Schritt. Und ganz ehrlich: gute, schöne, reiche, intensive Tage gab es auch. Jetzt bleibt das Mittelmaß.

Das ist nicht das schlechteste.

Traumgestalten

Im Traum nehme ich selten Gesichter wahr. Dennoch hinterlassen die Traumgestalten einen bleibenden Eindruck – anhand dessen, was sie anhaben, anhand ihrer Haarfarbe und… es ist wohl noch etwas undefinierbares dabei. Als würde ich nicht von Körpern, sondern von Seelen träumen.
Es gibt Orte, an die ich im Traum immer wieder zurückkehre. Manche dieser Orten existieren außerhalb meiner Träume gar nicht, tragen aber Merkmale von mir bekannten Gebäuden oder Spazierwegen – zum Beispiel das Gebäude, in dem ich in Physik geprüft wurde, oder die Schule meiner Gymnasialzeit. In der Regel sind alle Orte größer als ihr Pendant, haben den Charakter einer Kathedrale. Wenn ich von meiner Wohnung träume, dann gibt es im Traum häufig eine Tür zu einem neuen Zimmer oder gar Zimmerflucht, groß und weit. Diese Räume sind mir unbekannt, so wie einem etwas unbekannt ist, daß da ist, aber für einen Moment der Erinnerung entschwunden war.

Heute morgen habe ich verschlafen. Ich habe von der Liebe geträumt. Im Traum liebe einen schwarzhaarigen Mann – oder ist er eher ein Junge? Vielleicht ein Kommilitone. Wir sitzen gemeinsam in einer Mischung aus Mensa und amerikanischen Diner. Es ist brechend voll. Ich habe das große Bedürfnis, ihm zu sagen, was ich empfinde. Wie viel er mir bedeutet. Daß ich es wunderbar finde, mit ihm zusammen zu sein. Daß ich immer mit ihm zusammen sein will, daß ich will, daß es nie aufhört. Schmerz mischt sich in mein Gefühl, Sehnsucht und Unsicherheit. Bislang sind wir nur Freunde. Ich muß es ihm sagen und ich habe Angst, daß er mich zurückweist. Die Worte bleiben in mir stecken. Schließlich stehe ich auf, setze mich auf die kunstlederbezogene Bank neben ihm. Ist das schon zu nah?
Er legt den Arm um mich, ich lege meinen Kopf auf seine Schulter, spüre die Textur seines Pullovers (dunkelblau), das Strickmuster, die Wolle. Wir sind zusammen. Später wird die Wolle nackter Haut weichen, aber die erotische Wendung, die mein Traum nimmt, ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck meiner Gefühle.
Als ich aufwache, bin ich sehr ruhig, und fühle mich seltsam leicht.

des Schnitters Ernte

Ein Kollege hat mir vom Tod seines Vaters erzählt. Der Bypass war sieben Jahre her, da erlitt er mehrere kleine Infarkte, die er vor den Familie verbarg. Er wollte nicht ins Krankenhaus, er wollte keine neue Operation. Er wollte nicht auf einem metallenen Tisch sterben.
Im Jahr seines Todes besuchte er noch einmal all seine Geschwister und seine Kinder. Sein Sohn, mein Kollege, hatte seine Doktorarbeit beendet, und in einer Herbstnacht starb der Vater in seiner Wohnung. Am morgen fand ihn seine Frau, von der er seit fünfzehn Jahren getrennt lebte. Einer seiner Söhne, gelernter Altenpfleger, wusch ihn. Ein paar Tage später wurde er beerdigt. Seine Kinder entwarfen einen Grabstein.

Ohne daß er es ausspricht, weiß ich, daß mein Kollege großen, herzzerreißenden Schmerz durchlebt hat. Vielleicht irre ich mich, aber mir scheint, daß heute, ein paar Jahre nachdem der Tod dieses Loch in diese Familie gerissen hat, nur noch gute Erinnerungen bleiben.

dies und das

In irgendsoeiner Studie haben sie herausgefunden, daß Männer angeblich alle 59 Sekunden an Sex denken. Frauen hingegen nur ein- bis viermal am Tag.
Ist das wirklich so? Und wie das wohl gemessen wurde…
Verblüffend, daß wir dennoch die Raumfahrt erfunden haben. Ein Freund meinte kürzlich zu mir, als wir darüber geredet haben, wer alles heimlich homosexuell ist und welcher Chef seine Assistentin abgestaub hätte, daß eine bestimmte Frau bei uns, die eine hervorragende Wissenschaftlerin ist, asexuell sei.
Vielleicht wurde die Raumfahrt von asexuellen erfunden.
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Sind Frauen jetzt wieder Samenablagen und Fleischpuffer für Agressionen kleiner Trottel?
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Kapitalismus
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Unfairer Advent.
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Zwölf

Bohnen

Ich schnipple Bohnen. Bohnen gab es lange nicht. Sie wuchsen im Garten meiner Eltern wie Unkraut, und so habe ich in der ersten Hälfte meines Lebens so viele Bohnen gegessen, daß es auch für die zweite reicht.
Nun schnipple ich Bohnen. Das schnappende Geräusch, wenn man die Enden abschneidet. Die Haut der Bohnen an meiner Haut. Der Geruch. Die Suche nach der besten Technik: jede Bohne einzeln? Drei Bohnen auf einmal? Und während in meinem Rücken das Wasser zu sieden beginnt, verschwimmt die Zeit, und ich bin wieder zwölf. Die Sommer endlos, Erde an den Füßen, der Hund, der Garten. Eimerweise Bohnen, die wir alle reihum schnippeln, die mein Vater kurz kocht und dann in Plastik einschweißt. Die Einschweißmaschine im Orange der siebziger Jahre. Und den ganzen Winter hindurch Bohnen, die ich nur essen kann, wenn ich den Geschmack mit Zitronensaft unkenntlich mache. Oder wenn Speck dran ist.
Das Wasser kocht, ich werf die Bohnen rein. Kenya steht auf der Packung. Wir haben beide einen weiten Weg hinter uns. Die Reise der Bohnen ist hier zu Ende. Am Schluß mache ich ein wenig Knoblauch drauf. Und hoffe, daß auch mein Leben hat, was die Bohnen brauchen: Würze.