4. November 2020

Meinen eigenen guten Rat ignoriert und morgens gleich den Fernseher angemacht. Da führt Trump, mit 180 zu 200. Zum heulen.

Gleich rumgearbeitet, morgens immer so einen Motivationsschub, der dann leider nachlässt. Biden steigt auf 238 zu 201 oder so, und bleibt da erst einmal eine ganze Weile stehen. Trump erklärt sich erst einmal zum Sieger, und ich mache den Fernseher aus. Auf TikTok erklärt eine Frau der Gen Z, dass sie regelmäßig Medikamente nimmt, und zweimal im Monat zum Chiropraktiker muss; sie ist Brillenträgerin und braucht Schuheinlagen und ist für den Bürgerkrieg wirklich nicht geeignet, und ich denke: I feel you.

Mittags einen Lunch mit einer ehemaligen Kollegin, schon ein paar Arbeitgeber her. Sie wird sich eine Wohnung kaufen, sagt sie, 120 qm in sehr guter Lage, bisschen unter einer Million, Kreditzinsen seien ganz gut gerade, Inflation kommt, Betongold usw.

Ich hatte mich schon weit bevor sie das sagte an einem kleinen Stück Käsespätzle verschluckt, sofortige Ersickungsangst und Schwindel, den Rest des Tages dauernd Hustenanfälle. Mal gucken, wie das weitergeht, mittlerweile schon den einen oder anderen Artikel in der Apotheken Umschau gelesen. Bei das fünfte Element hat sich auch ein Bösewicht verschluckt, an einer Kirsche oder Pflaume. Er hat ein Haustier, blau und mit einem langen Rüssel, das konnte fast alles, außer: ihm auf den Rücken klopfen. Da muss ich immer dran denken, wenn ich mich verschlucke, auch wenn ich mittlerweile weiß, dass man das Heimlich-Manöver auch alleine an sich durchführen kann. Wie das geht, wird zum Beispiel in diesem Video gezeigt.

Später einen sehr bizarren Videocall mit einem neuen Kollegen aus dem Team in England. Call war als „one-on-one“ bezeichnet, zu meiner großen Überraschung ist noch eine weitere Frau dabei. Schlechte Etikette, und als ich das adressiere, wischt er so drüber, ach ja, stimmt, sorry, aber meint es gar nicht so. Als ich die Frau frage, warum sie beim Call dabei ist und was ihre Rolle in der Organisation ist, lässt er sich nicht sprechen, sondern spricht für sie. Er spricht überhaupt sehr viel, auf so eine freundliche, belehrende, herablassende Art, aber hey, alles nicht so gemeint, immer locker nehmen. Mal sehen, wie lange er sich hält.

Ich rege mich darüber so auf, dass ich vergesse, abends einen wichtigen Systemtest durchzuführen. Das wird eventuell noch Ärger geben. Ich hole es schnellstmöglichst nach und erlebe im Anschluss noch ein kleines Produktivitätshoch.

Kurz Muttern in ihrer Wohnung besucht; sie war heute regelbrechend beim Lesezirkel mit zwei Freundinnen, also ein Treffen von drei Haushalten. Die Begegnung war ausgesprochen schön und hat sie aus dem beginnenden seelischen Tief gut herausgeholt, daher finde ich das nicht so ganz schlecht, aber auch nicht wirklich richtig. Tricky.

Wäsche aufgehängt und dazu die Tagesschau geschaut, zeitverzögert aus der Mediathek. Immer noch kein Wahlsieger.

Wenn es gut läuft, habe ich noch siebzehntausend Tage vor mir. Wenn es schlecht läuft, weil das kleine Stück Käsespätzle mir noch eine Lungenentzündung bereitet und es kein Beatmungsgerät mehr für mich gibt, oder weil irgendwelche weißen Dudes die Welt beenden oder mich, dann sind es deutlich weniger Tage. Dafür, dass meine Tage so wenige sind, und so kostbar, finde ich sie ganz schön langweilig.

Und kann doch nicht anders, als heute wieder Optimismus in mir zu spüren: dass bessere Tage kommen, Perseiden gucken, Boot fahren, Spaziergang am Rhein, am Strand in Abu Dhabi, nice little restaurants where they know your name, oder auch – und das vielleicht ganz bald – stillvergnügt im Sessel, gute Gedanken im Kopf, und ein interessantes Buch auf dem Schoß.

Kontakttagebuch: niemand außer Muttern.

3. November 2020

Viel bessere Laune. Hormone sind eine Bitch.

Gut gearbeitet, morgens im Schlafanzug mit ungeputzten Zähnen gleich ein paar Sachen durchadministriert, später am Tag dann viele Gespräche per Telefon oder Video.

Über die Mittagszeit mit Muttern einen Spaziergang durchs Dorf gemacht. Mutter weiterhin wegen Vertragssache sehr aufgewühlt.

Die COVID-19 Einschläge kommen näher.

Bisschen Streit mit meinem Chef. Sie müssen einfordern, was Ihnen zusteht, auch wenn Sie es nicht bekommen werden, sagt mein Coach. Nun gut.

Abends Mentoring-Gespräch mit einem sehr guten Kollegen aus einer anderen Abteilung in London – er ist der Mentor, ich bin der Mentee. Läuft schon ein paar Monate und hilft mir sehr. Nicht nur, weil er mir Feedback zu meiner Person gibt und einen anderen Blickwinkel auf die Dinge hat, sondern vor allem, weil wir tratschen wie die Waschweiber. Natürlich alles strictly confidential. Alles, was dazu beiträgt, mir ein Gefühl für die Organisation zu geben, für die ich arbeite, tut mir gut. Zu spüren, wie sie atmet, wie ihr Puls zur Zeit ist, ob sie vital ist oder eher schwächelt, welche Kämpfe gerade ausgetragen werden und wer mit wem kann und wer nicht. Spannend.

Mir ein bewusstes Nachrichtenverbot ausgesprochen für heute und zum Teil auch für morgen. Allerhöchstens mal einen Blick auf die Push-Nachrichten werfen. Alles andere regt mich nur auf, und das ist nicht gut für mich.

Der Wohlstandstempel soll keine Risse bekommen.

Kontakttagebuch: Niemand außer Muttern.

1. und 2. November 2020

Im November jeden Tag bloggen, sagt Frau N, also gut.

Sonntag, 1. November: sehr schlechte Laune, fast schon so eine Art von depressiver Verstimmung, jedenfalls tiefe Mißmutigkeit. Schlechtes Körpergefühl, Weltpolitik nervt mich, insbesondere die anstehenden US-Wahlen plus befürchteter Unruhen. Den stillen November finde ich gut und richtig, die steigenden Fallzahlen machen mir große Sorgen. Trotzdem fühlt es sich an, als müssten wir die Zeche für die Unvernünftigen zahlen. Bin mir aber gar nicht sicher, ob mein Mißmut wirklich damit zusammenhängt, oder einfach aus einer Erschöpfung herrührt: zu viel gearbeitet dieses Jahr, zu große Räder gedreht, gewachsen auch, eine echte Bürgermeisterin mittlerweile, alles erwachsen, dauernd und ohne Pause. Oder gehört es einfach zu mir, der Schwermut, der kommt, und auch wieder geht?

Es hilft, zu wissen, dass wirklich keine Produktivität zu erwarten ist an solchen Tagen. Mittagessen mit Muttern, sie hat auf meinen Wunsch ein Schmorgericht gekocht, ich habe Rotkohl dazu gemacht, den Tisch bei mir in meiner Wohnung gedeckt, mich geduscht und angezogen, Haare gewaschen und Schmuck und all das. In mir drin sitzt eine kleine, mißmutige Stimme und nörgelt, ob ich denn glauben würde, dass das helfe? So ein billiger Trick? Und es hilft, ein bisschen.

Keine Kraft für ein Buch, obwohl mir das am meisten fehlt und am meisten helfen würde, Bücher lesen. Stattdessen ein bisschen The Middle geguckt, alte Folgen, die ich schon kenne, und selbst das ist mir fast zu dramatisch. Viel TikTok. Eine Email geschrieben. Bisschen Zeit für mich selbst, doch noch zu einem guten Körpergefühl gefunden, sehr entspannend.

Gerne diesen Beitrag gelesen: es ist, wie es ist

Montag, 2. November: Home Office. Erstmal alles aufgebaut, eher lasch rumgearbeitet, gutes Gespräch per Video mit dem Geschäftsführer, er baut mich immer auf, auch wenn das eigentlich andersrum sein sollte. Mittags Grippeschutzimpfung, anschließend Spaziergang mit Muttern, sehr blauer Himmel, ungewöhnlich warm mit nahezu 20 Grad. T-Shirt-Wetter. In der Luft liegt etwas wie Teneriffa im März oder Norwegen im September, sehr schön. Stimmung innendrin aber immer noch mittelmäßig.

Wieder ein paar gute Emails vom Büro, manchmal liebt es mich ein bisschen zurück.

Die Pressekonferenz der Bundeskanzlerin gesehen. Sie für ihre Geduld bewundert, und ihren Langmut. Alles, was sie sagt, macht für mich Sinn. Ihr Verständnis der wissenschaftlichen Seite der Pandemie scheint mir korrekt zu sein. Ein paar Mal hat sie mich sogar ein bisschen gerührt, mit ihrem Hinweis, dass wir das alles tun für die, die wir lieben, die besonders schutzwürdig sind. Eine Frage ging in die Richtung Freiheit und Autokratie, und sie sagte, dass man in einer Demokratie eben anders argumentieren müsste. Die Leute mitnehmen. Es tut mir ein bisschen weh, dass sie glaubt, dass die Menschen besser wären als sie es tatsächlich sind, selbstloser, mit weiteren Blick, mehr Verständnis, besserer Disziplin.

Ich erhole mich langsam, ein paar Mal war ich heute ganz bei mir selbst, in Resonanz mit der Welt, einen Augenblick nur, dann rutscht es wieder weg, und ich esse, und bleibe hungrig, und schlafe, und bleibe müde.

Abends noch meine Mutter lange zu einem schwierigen Vertrag beraten, über den sie sich große Sorgen macht. Care-Arbeit.

Guter Blick aus dem Fenster heute, ein schönes Licht. TikTok und vielleicht räume ich gleich noch die Küche auf, vielleicht aber auch nicht.

Kontakttagebuch: Muttern, die Arzthelferin in der Praxis (Maske), die Frau von der Tankstelle (wegen Post, Maske).

Gin

Ich sitze an meinem Esstisch im Wohnzimmer und blogge. Meinen Arbeits-Laptop habe ich schon wieder weggeräumt, auch das Atomphysik-Lehrbuch, das mir als Laptopständer gedient hat. Ich war nur heute im Home Office, morgen geht es wieder ins Büro.

Frau N. ist mir per Videokonferenz zugeschaltet und sitzt im Arbeitszimmer in ihrer Wohnung. Sie schreibt heute nicht an ihrem neuen Chromebook, sondern am „Gamer-Laptop“, das höre ich sofort, weil die Tasten viel lauter klappern. Frau N. trinkt ein großes Hefeweizen, ich einen Gin Tonic, ausnahmsweise.

Frau N. hatte heute einen schwierigen Tag, und zwar nicht wegen Büro, sondern wegen den fundamentalen Themen: Gesundheit, Leben, Tod, und die Liebe, die wir für andere empfinden. Es scheint aber alles ein gutes Ende zu nehmen.

Mir geht es schlecht, seit ein paar Tagen oder gar Wochen schon. Wenn ich mich abends ins Bett lege, tut mir alles weh, innen wie außen. Es geht ums Büro, aber im Büro versteckt, wie eine Matrushka, die großen Themen: Gesundheit, Leben, Tod, und die Liebe, die wir für andere empfinden. Die Endlichkeit, die Fragilität der Körper, der Rollen, und der Organisation.

Wie ich versuche, mich mit Macht dagegen zu stemmen. Das ist dumm, natürlich, jeder weiß das, auch ich. Aufhören ist keine Option. Zu hohes Risiko, und der Einsatz ist – alles.

Mein Denken läuft in diesen Tagen mit zweihundert Stundenkilometer, die Gedanken halten sich mit schwachen Ärmchen an der Stange des Karrussells fest.

Ich suche nach einem Ausweg. Ich nehme noch einen Schluck Gin Tonic. Er ist mittelmäßig, das Tonic nicht kalt genug, der Gin zu scharf, es fehlt Zitrone. Aber was ist schon perfekt.

Ich werde weiterhin das Risiko beobachten, werde es dokumentieren und mitigieren, soweit möglich. Ich werde mich besinnen auf das, was in meinem Verantwortungsbereich ist. Ich werde nur dafür die Verantwortung übernehmen, und für nichts darüber hinaus.

Und dann kommen mir doch kurz die Tränen, weil ich mich selbst sehe, wie ich mir so viel Mühe gebe, mich bis zur Erschöpfung anstrenge, und doch nicht erreiche, was mir wichtig ist. Selbst schuld, kann man jetzt denken, mich professoral belehren, mir aufzählen, was ich alles anders machen müsste. Aber ein bisschen tut sie mir schon leid, dieses andere ich, das sich da so reinhängt, und scheitert, an den Strukturen, an mangelnder Führung, an sich selbst. Ein Geschmack wie bittere Asche im Mund, und ich wische die Tränen weg.

leichtfertig

Ich sitze am Esstisch von Frau Novemberregen und blogge, genauer gesagt sitze ich an der Stirnseite des Tisches mit Blick zum Fenster, links neben mir ein freier Platz, und erst dann Frau N., die ihre Füße auf den Stuhl zwischen uns gelegt hatte. Eins Komma Fünf Meter Abstand.

Frau N. ist ganz in schwarz gekleidet heute, sehr schön und trägt keine Socken. Ihre Füsse sind nackt. Ich bin auch in schwarz gekleidet, aber meine Hose hat ein feines, blaues Karomuster. Window Pane sagen die Engländer. Am Fenster von Frau N. hängt eine überraschend spießige Fenstergardine, Halbmast, die ich bereits vor einigen Jahren kommentiert habe, was Frau N. aber unberührt lies. Auf dem Tisch eine Häkeldecke, handgefertigt von der Putzfee, sowas kriegt man nie wieder los.

Frau N. tippt schon wieder sehr schnell. Sie hat ein neues Chrome Book, deshalb tippt sie jetzt leiser als vorher, aber es kommt mir noch schneller vor. Wir haben gerade gegessen, eine Platte mit Mezze aus dem Damaskus Haus, sehr gutes Hummus, perfektes Toum, zwei eher fragwürdigen Fatoush-ähnlichen Salate, solide Kibbe, sowas wie Pilaki, sowie Falaffel, die ich nicht gegessen habe. Ich finde, Falaffel schmecken immer nach frittiertem, feuchtem Pappkarton.

Ich esse übrigens nahezu alles, außer Kimchi und Fenchel.

Bevor das Essen kam, haben Frau N. und ich uns unterhalten. Bisschen überraschend, wie wir heute sofort auf die Kernthemen zu sprechen kommen, nahezu ohne Smalltalk. Frau N. ist gerade in einer besonderen Stimmung, entspannt im Urlaub, mit langen Gedanken statt den kurzen Späßen, ich mag das alles an ihr, auch ihre Wut und ihre Härte. Wir haben über Führung gesprochen, Führung, die wir bekommen, und Führung, die wir anderen geben, und wie das zusammenhängt. Ich bekomme richtig gute, hilfreiche, bereichernde Führung vom Geschäftsführer, aber nicht von meinem direkten Chef. Frau N. hat mich gefragt, bei welchen Themen mein Chef und ich zusammenarbeiten, aber mir ist nichts eingefallen. Das kann doch nicht stimmen? Mein Chef interessiert sich nicht so richtig für das, was ich mache, es läuft ja alles. Ein Stück weit kann ich das verstehen, und ich frage mich, inwieweit ich mich auch nicht interessiere für die Tätigkeiten anderer, bei denen ich weiß, alles läuft. Aber ich möchte auch wachsen, mich entwickeln, möchte Hilfestellung dazu, und das ist von der Art von Manager, die mein Chef ist, vielleicht zu viel verlangt. Und mir fällt auf, dass ich mich bereits anders organisiert habe: mit Frau N. als regelmäßiger Feedbackgeberin in ihrer Rolle als Peer, mit zwei Mentoren innerhalb meiner Organisation an einem anderen geografischen Standort, mit dem Chef meiner Fachabteilung, der in einem anderen Land sitzt, mit einem externen Coach, mit anderen Peers, mit externen Dienstleistern.

Es gibt so einen Satz in mir: mir hilft niemand – aber das wollte ich ja so. Da bin ich empfindlich, da triggert was, da bin ich noch nicht fertig mit dem Nachdenken und dem Position finden.

Mein Chef findet mich manchmal brüsk. Frau N. sagt, sie weiß genau, was er meint, aber sie findet das nicht brüsk, sondern das kommt, wenn ich eine Haltung zu etwas gefunden habe, wenn ich eine Entscheidung getroffen habe, und wenn ich nicht mehr bereit bin, mir denselben Bullshit anzuhören, immer und immer wieder.

Ihr würde auffallen, sagt Frau N., dass ich niemals leichtfertig sei. Das macht mich sehr zuverlässig, sagt sie, weil ich die Dinge genau durchdenke, eine Entscheidung fälle, und diese dann durchziehe. Das hätte – wie alles im Leben – auch eine dunkle Seite. Und ich bin kurz gerührt, warme und kitschige Gefühle durchströmen mich, weil Frau N. das so sensibel formuliert, auch in der Einleitung („das hat jetzt nichts direkt mit dem Thema zu tun, aber in dem Zusammenhang ist mir etwas aufgefallen, vielleicht hilft dir das weiter“).

Es hilft mir sehr, und ich bin überrascht, wie häufig es diese Parallelen gibt bei Frau N. und mir, wenn unabgesprochen dasselbe in unserem Blog oder unseren Gedanken vorkommt. Ich wollte heute eigentlich über das Risiko schreiben, darüber, wie risikoavers ich mich zur Zeit fühle, und dass ich mich frage, ob das so richtig ist. Jeder gute Banker weiß, dass der Gewinn nur dort entsteht, wo auch das Risiko ist.

Ich habe so wenig Risikoappetit gerade, ich will, dass alles gleich bleibt, ich möchte nichts, aber auch wirklich gar nichts ausprobieren, das ich nicht vorher genau durchdacht und die Folgen abgeschätzt habe. Da ist was fragil in mir, vielleicht so ein Grundgedanke, dass das Glück und der innere Wohlstand, die Sicherheit und die Privilegien nur eine vorübergehende Erscheinung sind, und ein Lufthauch, ein falscher Schritt, ein unüberlegtes Wort alles ins Wanken bringen könnte. Du hast jahrelang Dreck gefressen, sagt mir jemand, und ich überlege, ob die vergangenen Jahre doch schlimmer waren, als ich sie in Erinnerung hatte. Francine hat einmal das Wort Trauma benutzt.

Ich überlege, aber ich bin noch zu keiner Entscheidung gekommen, und vielleicht werde ich das auch nicht, vielleicht nehme ich es einfach so hin, und richte meinem Blick auf die nahe Zukunft, und das NEIN in mir, wenn sich ein Risiko nähert, wird irgendwann einmal schwächer.

Frau N. reicht Datteln, dick und süß und saftig. Alles ist gut.

Zucchini

Frau Novemberregen und ich sitzen auf einer Terrasse hinter den Bankentürmen und bloggen. Wir hatten beide ein sehr gutes Essen, jetzt steht ein Nachtisch neben uns und ein Cappucino dazu, und am Nebentisch reden zwei Männer über Business.

Frau N. sieht heute sehr gut aus, ein bisschen casual in einer tief dunkelblauen Jeans, dazu ein Kapitänsjäckchen, sie ist hier die wahre Schiffsführerin. Sie trägt weiße Schuhe, mit Budapester Muster, das gefällt mir gut. Wir haben uns wie immer an der Ecke getroffen, ich schrieb ihr gerade eine Nachricht, da sah ich sie am Ende der Straße auf mich zukommen, ganz klein, ganz eindeutig sie, und ich habe dann so warme, kitschige Gefühle, über die sie sicher hier nicht lesen möchte.

Ich habe ihr eine Zucchini mitgebracht, aus dem Garten meiner Mutter, das hat sie sich gewünscht. Ich habe gerade kein gutes Verhältnis zu Zucchini, vielleicht sogar schon länger, seit meiner Kindheit, in allen Gärten, die meine Mutter hatte, wuchsen sie immer wie Unkraut, und ich musste Zucchini essen, monatelang. Die Haupzubereitungsart in der Küche meiner Kindheit war Letscho, das heißt, die Zucchini – oft schon sehr groß und ausgehöhlt – wurden in Scheiben geschnitten und mit Tomaten und anderem Restgemüse stundenlang gegart. Letscho hat stets mein Vater gekocht, mit großer Ruhe und Vergnügen, Deutschlandfunk dazu am Sonntagmorgen. Das Ergebnis ist mir wie etwas in Erinnerung geblieben, das bereits einmal verzehrt wurde. Mittlerweile kenne ich weitere Zubereitungsarten, gebraten, als Salat, als Auflauf. Das ist schon okay, aber irgendwie schmeckt mir Zucchini immer nach feucht gewordener Pappe, die mit Gemüsebrühe aus dem Glas bestreut wurde. Am ehesten mag ich Zucchini so, wie sie der Ehemann meiner syrische Freundin macht: mit Knoblauch und Minze.

Frau N. mag keine Minze, das überrascht mich immer wieder. Dafür aber – ganz klar – Zucchini.

Neulich hatte ich einen Traum: ich war in einem sehr großen Gebäude, mit Atrium und Galerie, ein bisschen wie der Eingangsbereich des Restaurants, in dem wir gerade sitzen, oder ein modernes Ministerium oder Museum. Eine ätherisch aussehende Frau, die eindeutig die Macht besass, und ein ihr untergebener Mann haben mich begrüßt. Und überall: Zucchini. Grüne und gelbe, runde und lange, manche klein, andere meterlang, wuchsen alle liebevoll platziert in diesem Gebäude meines Traumes. Es war eine Sekte, für die Zucchini kultische Bedeutung hatte.

Ich wollte nicht beitreten.

Frau N. und ich haben uns eine Weile nicht gesehen, es war zu heiß für sie und sie hatte sehr schlechte Laune, da hält man sich besser fern. Jetzt ist sie schon deutlich entspannter, aber immer noch liegt eine Härte in ihr, und eine Strenge, und bei manchen Themen zucken ihr die Augen, und bei anderem zeigt sie ihr Haifischlächeln.

Und ich? Ich schwimme so mit, ein bisschen weicher als sie, härter als viele, gerade etwas unter Strom, aber auch sehr interessiert an allem, was gerade passiert. Beim Rausgehen heute aus dem Büro gespürt, dass ich etwas vergessen habe, zweimal überlegt, aber erst, als die Aufzugstüren sich öffnen, fällt mir ein, dass es meine Maske war. Angekommen in der neuen Normalität, während um uns die Zahlen steigen und steigen.

Bizarr ist, dass dieses Jahr so viel besser für mich ist als letztes, als ich die Zucchinipflanzen meiner Mutter gießen musste, während sie mit gebrochenen Fuß sehnsüchtig in ihren Garten blickte. Es ist alles gut gerade, die Sonne scheint und Frau N. rettet eine Wespe aus ihrem Glas. Nichts fehlt, die Sternschnuppen fallen, und ich wünsche mir, dass alles so bleibt, wie es ist, und weiß doch, dass sich alles ändert, immer.

Sterne

Ich sitze auf dem Balkon der zauberhaften Sarah und blogge. Gerade eben saß sie noch neben mir und wir haben uns unterhalten, ein schönes mäanderndes Gespräch an einem Sommerabend, über dies und das, das leichte und das schwere, und hier und da mussten wir sehr lachen. Frau Novemberregen ist es heute zu heiß, es ist wirklich nicht ihr Wetter.

Als ich über die Autobahn zu Sarah gefahren bin, hat es angefangen zu gewittern. Dicke, fette Tropfen, die auf der Windschutzscheibe explodieren, alles wird ganz langsam und in einem seltsam verwaschenen Grauton, und alles fokussiert sich auf den Moment, wie in einem Tunnel. Es blitzt am Himmel, und auch hinter mir, Lichthupe, denn ich habe vergessen, die Scheinwerfer einzuschalten, und etwas später in der Stadt eine Radarfalle. Früher, als ich andere Gründe hatte, hier zu sein, waren höhere Geschwindigkeiten erlaubt.

Ich überquere den Rhein, bin wieder einmal überrascht, wie mächtig und breit der Fluß hier ist. Ich möchte hier mit einem Boot fahren, unbedingt, jetzt gleich.

Die zauberhafte Sarah hat eine neue Wohnung, traumhafte Lage, Altbau, sehr viel Charme, und einen wunderschönen Balkon, liebevoll und mit einer Brigarde an Topfpflanzen auf dem Balkongeländer. Innerstädtisch, ein Supermarkt nebenan, aber hier ist es ruhig, die Autos weit weg wie sanfte Wellen, ein Blick über vier oder fünf Hinterhöfe entlang, ganz am Ende die Terrasse einer Sauna, dunkle Männerstimmen, nackte Oberkörper. Die zauberhafte Sarah reicht Häppchen an, und ich sitze neben ihr und weiß, dass ich das beste Leben lebe.

Ein wenig erinnert mich Sarah an eine normannische Königin: sie ist sehr schön, aber ach zart und würdevoll, hart und unnachgiebig. Ich habe von ihr einige Lektionen in Sachen Durchhaltevermögen gelernt: aushalten, nicht mehr Kraft mit Klagen vergeuden als nötig, Gesicht bewahren, still die Rache planen. Es ist wünschenswert, sagt die zauberhafte Sarah, wenn die Dinge so sind, dass man sich emotional zwischen 4 und 7 auf der Skala von 1-10 befindet. Aber manchmal sind die Dinge nicht so gut, und wenn wir unter vier rutschen, sagt sie, dann ist es auch egal. Dann geht es nur noch ums durchhalten und abwarten.

Die zauberhafte Sarah und ich möchten heute in den Himmel schauen, Perseiden beobachten. Es hat aufgehört zu regnen, der Himmel ist bedeckt, aber wir hoffen, dass es gleich aufklart. Vor drei oder vier Jahren haben wir das schon einmal gemacht, sind rausgefahren auf eine Wiese, haben uns hingelegt und nach oben geschaut. Die Perseiden sind ein Sternschnuppenregen, ausgelöst durch einen Komet, der um die Sonne zieht. Einmal im Jahr bewegt sich die Erde durch den Partikelschweif, den der Komet hinterlassen hat, und feinste Teilchen verglühen in der Erdatmosphäre. Und wir sehen Sternschnuppen.

Irre, dass es gar nicht die Sterne oder Planeten sind, die sich bewegen, sondern wir, auf diesem Raumschiff, das die Erde ist.

Solange es nicht bewölkt ist, kann man die Sterne jederzeit sehen. Aber wir machen es nur, wenn es Perseiden gibt. Ich versuche sie jedes Jahr zu sehen, und ich hatte großartige Erlebnisse, aber auch sehr mittelmäßige: bewölkt, zu viel Lichtverschmutzung, Wildschweine. Das ist die Magie: dass sich besondere Erlebnisse nicht ohne weiteres replizieren lassen, dass immer auch ein Quentchen Glück dazu gehört, damit wir in Resonanz kommen mit uns und der Welt.

Die zauberhafte Sarah sitzt neben mir, liest auf ihrem Handy, trinkt ein Glas Wein, und lacht manchmal leise, und wartet, bis ich fetiggeschrieben habe. Ein Glück, dass wir uns begegnet sind.

Es ist Nacht geworden, und wir müssen los.

(ohne Titel)

Heute ohne Frau N., die hat besseres zu tun – wir haben gemeinschaftlich beschlossen, unsere Mittwochsverabredung aufgrund hoher Termindichte heute abzusagen.

Auf Twitter gefragt, worüber ich schreiben soll. Eine Menge interessanter Antworten bekommen: die Farbe schwarz (und was sie mir bedeutet), Atomphysik, oberflächliche Atomphysik, Socken, Bürgermeisteramt Gurkfeld, wie mich Wissenschaft geprägt hat, warum der Sommer so warm ist, Brokkoli, Review eines Blogartikels von vor zehn Jahren, und wie man aus nicht vorhandenen Gefäßen trinken kann. Auf meiner eigenen Liste stehen noch TikTok und Alice in Chains.

Tatsächlich aber bin ich sehr müde heute. Gestern bis um acht im Büro, heute bis um sieben, und zunehmend arbeite ich selbst gar nicht mehr direkt, sondern manage andere Leute. Ich ahnte es schon, aber das ist tatsächlich gar nicht so einfach, insbesondere wenn es um Gebiete geht, in denen ich selbst nur rudimentär Ahnung hat. Ich muss mich darauf verlassen, dass die anderen wissen, was sie tun. Und vielleicht ist das die große Kunst: ihnen Sicherheit zu geben, und die richtige Antwort, den nächsten guten Schritt aus ihnen herauscoachen, ohne ihn selbst zu wissen. Ich werde noch eine Weile brauchen, bis ich darin wirklich gut werde.

Etwas besser bin ich in letzter Zeit darin geworden, harte Gespräche zu führen. Mitzuteilen, dass jemand die Erwartungen gerade nicht erfüllt, dass da jetzt mehr passieren muss, und was genau geleistet werden soll. Das loslassen danach fällt mir noch schwer, nicht die Verantwortung dafür übernehmen, wie sich jemand nach so einem Gespräch entscheidet oder verhält, ob er den Kopf in den Sand steckt oder das Kinn nach oben reckt.

Was mir sehr liegt, wahrscheinlich immer schon, das ist das gangbar machen von Rädern innerhalb der Organisation. Die richtigen Ansprechpartner finden, sie für mein Anliegen gewinnen, und die erste kleine Bewegung ausführen, um das Rad dazu zu bekommen, sich zu drehen. Damit es in ein anderes Rad greifen kann, und die Maschine hinter allem so rund läuft, dass alle gut arbeiten können.

Sie werden größer, die Räder, an denen ich drehe.

Noch einen Spaziergang mit meiner Mutter gemacht, obwohl eigentlich keine Zeit, und mir die eine oder andere Rüge abgeholt: ich arbeite zu viel, ich bin zu viel weg, ich kümmere mich nicht genügend um dies und das. Es ist halt nie genug, weder für das, was ich für mich will, noch für das, was andere von mir wollen. Eine Zeitlang habe ich geglaubt, ich könnte da mit Optimierung noch was rausholen, aber das stimmt nicht. Die Vorstellungskraft ist immer größer als die Realität.

Ich bin müde, und die Müdigkeit spricht zu mir, und sie sagt: schreib keinen Text über TikTok, obwohl du das gut machen würdest und wirklich gerne möchtest. Leg dich ins Bett, die weiche Sommerdecke zart und leicht auf dir.

Es ist genug.

Steuerrad

Frau Novemberregen und ich sitzen in der Außengastronomie und bloggen. „Überrasch’ mich!“, hat Frau N. gesagt, als ich gefragt habe, wo wir essen gehen möchten. Naja. Das Lokal im Thurn und Taxis-Palais hat pleite gemacht und jetzt sitzen wir gegenüber bei einem Spanier und hatten eine gemischte Tapasplatte. Frau N. hat es nicht so richtig geschmeckt, se leugnet das aber beharrlich.

Frau N. ist gerade im Aufzug von einer mitfahrenden Frau angeflirtet worden – sie wird darüber wahrscheinlich in ihrem eigenen Blog berichten. Dazu muss man vor allem wissen, dass Frau N. sehr weit oben in den Wolken arbeitet und daher eine lange Aufzugfahrt hat, die durchaus Zeit für einen gehobenen Flirt lässt. Frau N. sieht heute in der Tat sehr hübsch aus, mit einer Bluse, die ihr sehr gut steht. Die Füße sehe ich zum Glück gerade nicht. Bin jedenfalls sehr froh, dass Frau N. jetzt gerade mit mir ausgeht und nicht mit der Dame aus dem Aufzug.

Zur großen Überraschung aller – vor allem zu meiner – habe ich am Samstag die Führerscheinprüfung Motorboot bestanden. Ich hatte noch eine weitere Fahrstunde mit einem anderen, sehr geduldigen Fahrlehrer, und habe sehr viel geübt, neben Theorie und Knoten vor allem Visualisierung der Manöver. Am Prüfungstag selbst war ich total überrumpelt, weil ich zuerst die praktische Prüfung ablegen sollte und nicht die theoretische. Ich konnte dann unter großem Druck und Streß alles abrufen, was ich gelernt hatte. Sehr überraschend. Der Fahrlehrer der ersten Stunde war während der Prüfung mit im Boot und ziemlich fassungslos.

Ich selbst habe die paar Tage vor der Prüfung echt gelitten und mich schrecklich gefühlt. Vielleicht erst einmal keine Prüfungen mehr für mich, außer denen, die einem das Leben ohnehin stellt.

Ich kriege öfter Komplimente für meine Intelligenz. Ich selbst finde mich gar nicht so intelligent. Insbesondere, wenn ich etwas neu lerne, dauert es oft ganz schön lange, bis ich es mir merken kann. Ich komme mir dabei regelrecht blöd vor. Ich halte mich allerdings für ziemlich hart, und kann eine Prüfungsvorbereitung auch durchziehen, wenn ich mich schrecklich dabei fühle. Ich habe Durchhaltevermögen und ich bin gut organisiert, ich glaube, das sieht von außen wie Intelligenz aus. Fühlt sich von innen aber nicht so an.

Es ist gar nicht so gut, hart zu sich selbst zu sein. Muss man gut dosieren, damit es schön bleibt. Hart, aber schön.

Meine Arbeit macht mir gerade ziemlich viel Spaß. Da ist es auch öfter mal hart, heute zum Beispiel ein Ritt wie auf einem schwarzen Hengst. Und ich werde niemals, niemals fertig, damit schließe ich so langsam, aaber doch eher widerwillig meinen Frieden. Ich kämpfe etwas damit, zu benennen, warum mir meine Arbeit Spaß macht. Es ist sehr abwechslungsreich, und das, was ich tue, erlebe ich oft als wirksam. Es hat auch oft etwas mit Ordnung schaffen zu tun, aufräumen, kanalisieren, anschieben, lenken.

Der zweite Fahrlehrer hat zu mir gesagt, ich solle nicht so fahren, wie mir der erste Fahrlehrer gezeigt hat. Ich solle es selbst entscheiden, wie ich fahre, und wie ich lenke. Denn ich bin die Schiffsführerin. Ich bin es, die am Steuer ist.